Der Verlauf der Flutkatastrophe

Erlebnisbericht A. Ulrich

Hönningen
Januar 2023
Annemie Ulrich

Die ehemalige Kindergartenleiterin Annemie Ulrich aus Hönningen berichtet:

Aufgrund der Wettervorhersagen in den Tagen vor der Flut wurde das jährlich neben dem Freizeitgebäude in der Schulstraße stattfindende Zeltlager der DJK Stadtlohn abgebrochen. Die Kinder reisten rechtzeitig ab. Zelte und Betreuer blieben für den Abbau noch vor Ort.

Am 14. Juli um 13:00 Uhr meldete der Radiosender SWR 1 Überschwemmungen und überflutete Keller in Antweiler an der Oberahr. Erfahrungsgemäß erreicht das Hochwasser, je nach Fließgeschwindigkeit, etwa zwei Stunden später Hönningen. Diese Meldung veranlasste die Leiterin des Kindergartens die für 17:00 Uhr geplante Abschlussfeier im Eventcenter Bauerfeind abzusagen. Eine gefahrlose Heimfahrt der Familien in ihre Dörfer (Altenahr, Altenburg, Kreuzberg, Ahrbrück) schien nicht mehr gewährleistet.

Bild: Andrea Burkhardt

An der unteren Kapellenstraße versuchten Feuerwehr und Anwohner am späten Nachmittag mit Sandsäcken eine Überspülung der Straße im Bereich Hubertuskapelle zu verhindern, um die tiefer gelegenen Häuser zu schützen. Dies war jedoch angesichts des ständig steigenden Ahrpegels nicht möglich, so dass das Wasser schließlich die gesamte untere Kapellenstraße, die tieferliegende Parallelstraße, die Frohnwiese, den Wiesenweg sowie die untere Waldstraße überspülte und schließlich in Wohnhäuser eindrang.

Bei Sicherungsversuchen wurden Anwohner in der am Ahrufer gelegenen Hubertuskapelle eingeschlossen, als deren Tür ins Schloss fiel und sich von innen nicht mehr öffnen ließ. Aufgrund des tosenden Wassers hörte niemand ihre Hilferufe. Ein weiterer Anwohner bemerkte sie schließlich und befreite sie aus ihrer Notlage.

Bild: Andrea Burkhardt

Gegen 19:00 Uhr war das Wasser so hochgestiegen, dass die Bundesstraße 257 nördlich zwischen Hönningen und Ahrbrück sowie die Kapellenstraße im südlichen Ortsteil nicht mehr passierbar waren. Erste größere Gegenstände und Autos schwammen vorbei. Das Wasser drang in Häuser ein, Anwohner und Nachbarn räumten Sachen aus den Kellern in höhere Etagen, die allerdings später auch überfluteten. Gartenhäuser und Schuppen riss die Flut wie Spielzeug mit.

Durch die gesamte Waldstraße schossen Wasser, Schlamm und Geröll aus dem bewaldeten Berghang im oberen Bereich gegenüber Haus Nr. 6. Die Anwohner sicherten gemeinsam ihre Häuser mit Säcken und Brettern und versuchten die Schlammmassen mit Schaufeln und anderen Geräten umzuleiten.

Bild: Andrea Burkhardt

Bevor die ansteigende, reißende Flutwelle, die gegen 21:00 Uhr auch die höher gelegenen Anwesen bis Kapellenstraße Nr. 19 erreichte dies unmöglich machte, wurden Menschen aus ihren Häusern evakuiert. Nicht betroffene Nachbarn nahmen sie in ihren Häusern auf. Einige entschieden, in ihren vom Wasser umspülten Häusern zu bleiben. Bewohner der Waldstraße und des Wiesenwegs bildeten eine Menschenkette. Auf diese Weise schafften sie es, sich trotz der starken Strömung über die Brücke in den Ortskern in Sicherheit zu bringen, wo sie für die Nacht aufgenommen wurden. An den kommenden Tagen gelang es, alle deren Häuser unbewohnbar geworden waren, in Privathäusern, Ferienwohnungen und Wochenendhäusern unterzubringen.

Bild: Marco Burkhardt

Gegen 22:00 Uhr überspülte die Ahr die ganze Breite des Tales. Besonders in Mitleidenschaft gezogen wurden die Gebäude im Industriegebiet, die Umgehungsstraße am Ortsausgang Richtung Adenau sowie die Wohngebiete im unteren Dorfbereich (Kapellenstraße, Frohnwiese, Waldstraße und Wiesenweg), Gebäude und Anlagen in der Schulstraße einschließlich Kindergarten, Mehrgenerationenspielplatz, Sportplatz, Sportlerheim, Lagerhalle der Karnevalsgesellschaft sowie die Zelte und das Gemeinschaftsgebäude der Zeltlagergemeinschaft DJK Stadtlohn. Im Kindergarten wurden mehrere Personen eingeschlossen, die die schnell steigende Flut bei Sicherungsarbeiten überraschte. Sie verbrachten die Nacht auf Tischen und Spielpodesten im hinteren Bereich des ebenerdigen Gebäudes. Das schwer beschädigte Kindergartengebäude hielt den Wassermassen stand. Im vorderen zur Ahr zugewandten Bereich kam es zu Unterspülungen des Fundamentes. Das Wasser drang in Keller und Parterre sowie in das gesamte sich anschließende ebenerdige Gebäude ein.

Von der Brücke „Vor Kiehren“ riss die Flut den in Flussrichtung befindlichen linken Teil weg.

Bild: Harald Scherer

Anwohner im oberen Teil des Dorfes fühlten sich im Laufe des Abends beunruhigt. Sie gingen zur großen Ahrbrücke, um das Ausmaß der Fluten zu ermessen und um Hilfe zu leisten. Ihnen bot sich ein Bild der Verwüstung. Helfen konnten sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. In den tosenden Fluten schwammen Bäume, Autos, zischende Gastanks, Öltanks und alle möglichen Gegenstände. Die Bäume im Uferbereich der Ahr knickten um wie Streichhölzer. In der Nacht verbreitete sich im gesamten Tal ein durchdringender Ölgeruch. Gegen ca. 22:30 Uhr hatte der Scheitelpunkt der Flutwelle Hönningen erreicht.

Die große Brücke über die Ahr, mit ihren weiten hohen Bögen, hat die Flut mit einigen Blessuren am linken der drei mittleren Pfeiler überstanden. Sie war in den folgenden Wochen bis zum Aufbau der Behelfsbrücken eine der wenigen intakten Ahrüberquerungen und wurde wochenlang von schweren Hilfs- und Räumfahrzeugen Richtung Liers genutzt. 1912 war sie als Ersatz für die aus dem Jahr 1897 stammende Brücke erbaut worden, die bei der Flutkatastrophe im Jahr 1910 von den Fluten weggerissen wurde. Ihre Fundamente waren jetzt wieder sichtbar, die Flut hatte sie beidseitig freigespült. Einen Neubau an gleicher Stelle hatte man seinerzeit verworfen, weil die Eisenbahnverwaltung einen Bahnübergang mit Schrankenwärter vermeiden wollte. So erhielt Hönningen eine die Bahnschienen überquerende zwölf Meter hohe Brücke, die die Durchfahrt für Dampfloks gewährleistete. Eine Sanierung, mit Anpassung an die Verkehrsverhältnisse erfolgte 1995.

Bild: Jürgen Schwarzmann

Die an die Brücke anschließende Kapellenstraße wurde im ufernahen Bereich unterspült, so dass sie teilweise einbrach und nach der Flut nur noch für Fußgänger passierbar war. Die Bewohner des rechten Ahrufers boten Familien der linken Flussseite Versorgungsfahrten zu den Geschäften ins 12 Kilometer entfernte Adenau an. Nachdem das stark mit Öl kontaminierte Wasser abfloss bzw. abgepumpt wurde, war der tiefergelegene Teil der Kapellenstraße nach zwei Tagen wieder mit Fahrzeugen befahrbar. Ein Weg zur Brücke über die Waldstraße und den Wiesenweg wurde geschaffen. Der Fahrradweg Richtung Liers war zwischen Hubertuskapelle und Bunker weggespült. Als einzige Verbindung nach Liers legte man zwischen den Wohnhäusern Kapellenstraße 17 und 19 eine Durchfahrt an, die Einsatzfahrzeuge, Feuerwehren, Bundeswehr, Hilfsorganisationen, Räumfahrzeuge und Anwohner stark frequentierten. Schon am Morgen des 15. Juli half die Bevölkerung die B 257 am Ortsausgang Richtung Ahrbrück von Schlamm und Unrat zu befreien. Der durch umgestürzte Bäume, Hangrutsche und Überspülung unpassierbar gewordene Teil der B 257 Richtung Adenau konnte zügig geräumt werden, ebenso die unbefestigte Fortführung der Kapellenstraße Richtung Lind als Verbindung zu den Höhenorten.

Bild: Andrea Burkhardt

Da die Ortsumgehung im südlichen Teil unterspült und eingebrochen war, schleusten Dorfbewohner, ausgestattet mit Funkgeräten, den gesamten Verkehr durch den engen Ortskern. In den ersten Wochen nutzte man den intakten Bereich der Umgehungsstraße als Zwischenlager für die riesigen Mengen des aus Natur und Gebäuden entsorgten Unrates, kontaminierten Mülls und Bauschutts. Über viele Wochen transportierten Müll- und Lastwagen ununterbrochen alles ab. Nach Räumung und Reparatur der Umgehungsstraße war die einspurige Verkehrsführung Richtung Adenau möglich. Der Verkehr Richtung Altenahr führte weiterhin durch den Ort. Nach weiteren Instandsetzungsarbeiten wurde sie im September 2022 wieder zweispurig für den Verkehr freigegeben.

Das Gelände des Holzlagerplatzes Richtung Ahrbrück diente als Müllzwischenlager. Auf dem Campingplatz zwischen Ahrbogen und Tunnel Kreuzberg an der B 257 türmten sich Berge von Müll und Schutt, der dort sortiert und geschreddert wurde. Den Bereich des Hönninger Sportplatzes nutzten im Herbst große Schredderfahrzeuge. Es entstanden riesige Hügel abgelagerten und anschließend geschredderten Treibholzes, das man später abtransportierte.

Bild: Jürgen Schwarzmann
Bild: Andrea Burkhardt

Das Kindergartengebäude räumten und säuberten Personal, Bevölkerung und auswärtige Helfer. Feuerwehrtruppen aus Bayreuth rückten mit Spezialgeräten wie Schlammpumpen, Kränen usw. an. Eine Reinigungsfirma säuberte Wände und Böden vom Restschlamm. Die noch benutzbaren Einrichtungsgegenstände und das Spielzeug lagerte man in einer leerstehenden Metzgerei sowie im Pfarrsaal, wo Erzieherinnen bis zum August eine Notbetreuung für Kinder aus betroffenen Familien anboten. Der Kindergartenbetrieb konnte nach den Sommerferien im ehemaligen Kindergartengebäude in Adenau wieder aufgenommen werden. Den Umzug organisierten Kindergartenpersonal, Eltern und freiwillige Helfer aus dem Ort. Eine Helfergruppe aus Stuttgart entkernte an vielen Wochenenden das Kindergartengebäude. Die Eltern gründeten einen Förderverein. Es gingen viele Sach- und Geldspenden aus ganz Deutschland ein. Mit einem erweiterten Raumkonzept wird der Kindergarten am gleichen Standort wieder aufgebaut.

Bild: Jürgen Schwarzmann
Bild: Andrea Burkhardt

Dass die Hubertuskapelle, ein einfaches, solides Bruchsteinbauwerk, den Fluten standhielt, ist insbesondere einer an der südlichen Seite befindlichen Langmauer zu verdanken, die wie ein Bug wirkte. Das Wasser stand im Innenbereich bis zum Rand der Deckenbemalung. Der historische Holzaltaraufsatz kippte um, die Bänke türmten sich auf, die Figuren verschlammten, blieben jedoch in ihren Halterungen. Vor der Eingangstür türmten sich Geröll, Schlamm und Unrat. Der gesamte Dachstuhl verschob sich ca. sechs Zentimeter nach vorne. Das Dach an der zur Kapellenstraße befindlichen Seite wurde beschädigt. Im Umfeld riss das Wasser eine im Jahr 2015 errichtete Gedenkstätte mit dem historischen Brückenstein der zerstörten Brücke und der eingemeißelten Jahreszahl des Brückenbaus sowie Teile eines Skulpturenwegs entlang des Fahrradweges nach Liers weg. Bäume und Gärten im Umfeld der Kapelle fielen den Fluten zum Opfer. Das Wasser schwemmte alles mitsamt Erdreich weg. Die Berufsfeuerwehr Halle/Saale befreite den Eingangsbereich sowie den Innenraum von den Schlammmassen und legte ihn wieder frei. Ein ehrenamtlich tätiger Restaurator hat sich der Kapelle angenommen. Im Sommer 2022 war er außerdem im Rahmen eines Sommercamps mit Kollegen sowie der Jugendbauhütte Rheinland der Deutschen Stiftung Denkmalschutz an der Kapelle tätig. Ein ortsansässiger Dachdecker reparierte das Kapellendach.

Bild: Marco Burkhardt

Infolge des Starkregens rutschte in der Frohnwiese hinter Haus Nr. 12 der Hang ab, ebenso in der Hauptstraße neben Haus Nr. 2. Im Laufe des Abends brachen Strom- und Wasserversorgung sowie das Mobilnetz zusammen, Kanalisation und die Klärwerke wurden zerstört, was zur Folge hatte, dass in den kommenden Wochen die Toiletten unbenutzbar waren, bzw. Abwasser ungeklärt in die Ahr floss. Im Ort stellte man mobile Toilettenanlagen und eine Duschanlage auf. An der Sportanlage Leimbach, im Jugendheim Heckenbach sowie bei den Bewohnern des Kesselinger Tales bestand die Möglichkeit sich zu duschen und Wäsche zu waschen. Im Jugendheim Heckenbach konnte man sich zusätzlich mit Kleidung und Dingen des alltäglichen Lebens aus Spenden versorgen.

Bild: Marco Burkhardt

Im Gemeindehaus und auf dem Dorfplatz entstand ein Informations- und Versorgungszentrum. Sachspenden in Form von Lebensmitteln, Kleidung, Gebrauchsgegenständen, Arbeitsgeräten usw. wurden in einer ehemaligen Metzgerei, im Gemeindehaus und in einem leerstehenden Privathaus gelagert und an die Bevölkerung ausgegeben. Dorfbewohner organisierten die Lagerung und Verteilung der Spenden sowie eine tägliche Essensausgabestelle.

Das Gemeindebüro zog in einen Container auf dem Dorfplatz um, da man die Räumlichkeiten für den Infopoint zur Verfügung stellte. Inzwischen befindet es sich in einem angrenzenden Wohnhaus. Der Gemeinderat traf sich täglich zur Lagebesprechung auf dem Dorfplatz. Hier ermöglichte ein Hotspot der Bevölkerung die Nutzung des Internets.

Temporär waren in den ersten Tagen Ärzte für die medizinische Versorgung vor Ort. Psychologische Hilfe boten verschiedene Organisationen an. In den Räumen der ehemaligen Sparkasse fand regelmäßige psychologische Beratung statt. Notfallhelfer der Kirchen suchten im Ort das Gespräch mit Bewohnern. Haupt- und Ehrenamtliche der Pfarrei luden zu Gebeten und Andachten ein. In der Kirche richtete man einen Erinnerungs- und Gebetsort ein.

Bild: Andrea Burkhardt

Drei Häuser im Wiesenweg mussten aufgrund eines Ölschadens infolge der Flut abgerissen werden. Der Aufbau erfolgte dort an gleicher Stelle. Die Häuser der unteren Kapellenstraße Nr. 1 bis Nr. 6 sowie drei weitere sehr stark beschädigte Häuser am Fahrradweg Richtung Liers sind zwischenzeitlich wieder renoviert. Der Ahrtalradweg im Bereich der Ortsgemeinde ist komplett wieder hergestellt, ebenso die Kapellenstraße und das Umfeld der Hubertuskapelle. Eine Sanierung der aufgrund starker Beanspruchung durch Bau- und Einsatzfahrzeuge beschädigten Hauptstraße erfolgt.

Wie im gesamten Ahrtal waren auch in Hönningen unzählige freiwillige Helfer von nah und fern tätig. Sie unterstützten die Betroffenen bei der Beseitigung der Flutschäden und schenkten ihnen Zuversicht und Hoffnung. Dorfbewohner mit Traktoren und Anhängern halfen von der ersten Stunde an bei der Entsorgung des Unrates. Schon am ersten Wochenende trafen Firmen und Privatleute mit ihren Fahrzeugen und Arbeitsgeräten zur Unterstützung der Räumung ein. Es ist kaum vorstellbar, wie es ohne diese Hilfen verlaufen wäre.

In Hönningen und seinem Ortsteil Liers wurden 111 Häuser von der Flut beschädigt. Es gab keine Toten.