Der Verlauf der Flutkatastrophe

Erlebnisbericht E. Bertram

Dernau
Dezember 2022
Edyta Bertram

Edyta Bertram aus Dernau berichtet:

Die freiwillige Feuerwehr verteilte tagsüber Sandsäcke, die die Leute vor die Eingänge ihrer Häuser legten. Die Dernauer sagten „Es gibt eine große Sache“ und meinten das angekündigte Hochwasser. In den Straßen liefen zu diesem Zeitpunkt schon Pfützen und Rinnsale, durchs Dorf.
Mein Mann und ich stellten in dem an unser Haus angrenzenden Haus meines Schwiegervaters ein paar Geräte hoch; damit verbrachten wir nur einige Minuten. Als wir wieder in unser Haus zurückwollten, konnten wir die Tür zum Hof nicht mehr öffnen. Der Wasserdruck war zu stark. Kurz darauf stürzte Wasser mit Wucht ins Haus. Wir waren von unserem Haus, in dem unsere Tochter nun allein war, abgeschnitten, konnten nicht mehr zu ihr.

Nachdem unsere Feuerwehr von Wehren aus Orten weiter oberhalb der Ahr gewarnt worden war, sie solle vorsichtig sein, es sei eine Feuerwehrfrau ertrunken, die Flut sei gefährlich, fuhr sie hoch in die Weinberge, von wo aus sie machtlos zusah, was im Dorf geschah.

Bild: Heinz Grates

Gegen 23.00 Uhr hörten wir Hilferufe von draußen. Es waren Menschen, die später tot aufgefunden wurden, Nachbarn, deren Schreie wir hörten. Meine Tochter schrie gegen das laute Wasser an: „Die brauchen unsere Hilfe.“ Diese Schreie vergisst man nie. Wir sahen, wie das Wasser stieg.
Auf den Straßen schwammen Autos an unserem Haus vorbei, Gastanks, Gasflaschen, Häuserteile und Garagentore. Die Gastanks zischten. Wir hörten jedes Mal ein lautes Krachen, wenn wieder ein Gegenstand gegen unser Haus knallte und fürchteten, dass unser Haus, in dem sich unsere Tochter befand, irgendwann einstürzen könnte. Gegen 00.45 Uhr kam der Flutpegel zum Stillstand.
Der Pegel war um circa 04.45 Uhr über zwei Meter gefallen (gemessen am Fluthaus der Hoffnung, Hauptstraße 78).

Bild: Paddy Bertram

Als es hell wurde, sahen wir das ganze Ausmaß der Zerstörung. Unser Haus war voller Schlamm. Die Türen gingen nicht auf. Draußen fuhr ein großes Feuerwehrauto vorbei. Um neun oder zehn Uhr morgens klopften Feuerwehrleute an die Häuser und erkundigten sich, ob jemand vermisst würde. Sie holten Kranke und Menschen, die Medikamente brauchten, aus den Häusern, um für sie eine medizinische Versorgung zu bekommen und sie in sichere Unterkünfte zu bringen. Auch mein Schwiegervater wurde kurz nach 10:00 Uhr abgeholt und nach Gelsdorf zu Haribo in ein Auffanglager gebracht.
Mit zu einem Kreuz geformten Fingern teilten die Feuerwehrleute einander mit, in welchem Haus jemand in der Flutnacht gestorben war. Die Leichen wurden in der Kirche aufgebahrt. Man konnte dorthin gehen, wenn man einen Angehörigen vermisste. Es gab Tote, die angeschwemmt worden waren und die im Dorf niemand kannte.

Bild: Björn Helpap

Wo die Häuser aufgrund des Wassers noch unzugänglich waren, evakuierte die Feuerwehr die Menschen mit Booten. Es war wie der Weltuntergang. Alle Häuser waren im Innern kaputt. Der Friedhof war ausgespült. Auf den Bäumen hingen Autos. Auf den Straßen türmte sich vor den Häusern angeschwemmtes Hab und Gut / Hausrat. Dazwischen war nur noch ein schmaler Weg.

Wenn wir einander begegneten, haben wir uns nur angeguckt, umarmt und geweint. Alle hatten das gleiche Schicksal erlitten. Es kamen Fremde, die Sachen aus unseren Häusern trugen. Auch sie haben geweint.
Am Nachmittag kamen Helfer und Bauern mit Traktoren. Helferketten räumten aus den Häusern, was die Flut zerstört hatte. Wir Betroffenen heulten, während unsere kaputten Sachen aus unseren Häusern herausgeschleppt wurden.
Die Dernauer haben mehrere Tage lang geweint.
Helfer gingen von Haus zu Haus und warfen alles weg. Man konnte nichts saubermachen, weil es kein Wasser gab. Zudem waren alle Sachen voller Schlamm, Öl und Fäkalien. Wochenlang kamen Helfer und haben unsere Häuser leergeräumt und entkernt.

Bild: Paddy Bertram

In Dernau wurden 80 Prozent der Bevölkerung von der Flut betroffen. Es gab 11 Tote und zwei Suizidfälle direkt nach der Katastrophe. Später gab es noch einen Selbstmordversuch im Zusammenhang mit der verzweifelten Lebenssituation infolge der Flut.
Viele Dernauer leiden eineinhalb Jahre nach der Flutkatastrophe noch immer unter den schwierigen Gegebenheiten, die sich gewiss noch über Jahre hinziehen werden. Viele Erwachsene und Kinder sind traumatisiert und befinden sich in psychologischer Behandlung. Es wurden bisher 60 Häuser abgerissen, auch der Kindergarten. Eventuell wird auch die Schule mit der Turnhalle abgerissen, das steht jedoch Ende 2022 noch nicht fest.
Die Flut hat den Sportplatz zerstört, der nicht mehr an derselben Stelle aufgebaut werden darf. Ebenso wurden die Bäckerei, der Dorfladen und die Metzgerei komplett zerstört.
Viele Eigentümer haben ihre Häuser verkauft, weil sie nicht mehr die Kraft haben, sie neu aufzubauen.
Der Bürgermeister von Dernau samt Krisenstab stand vor der riesigen Herausforderung das Chaos in geregelte Bahnen zu leiten und für eine Notversorgung zu sorgen. Der Zusammenhalt innerhalb der Bevölkerung war zu dieser Zeit sehr groß und enorm wichtig.

Bild: Björn Helpap

Durch die vielen Helfer, Sach- und Geldspenden aus ganz Deutschland, als auch aus dem Ausland, entstand ein großes Gefühl der „SolidAHRität“. Die Hilfeleistung von außen war sensationell. Vor allem kamen viele junge Leute in Strömen, um zu helfen. Für die Dorfbewohner war die Hilfe in den schwierigen Stunden sehr wichtig. Sie gab ihnen Zuversicht und sie sind bis heute dankbar für diese grenzenlose Unterstützung.

Die vielen Toten, so meinen viele Dernauer, hätte es nicht geben müssen, wenn der Katastrophenschutz funktioniert hätte und die Bevölkerung rechtzeitig gewarnt worden wäre. Wenngleich die verantwortlichen Politiker nicht ahnen konnten, wie groß die Flut sein würde, so hätten sie sich doch im Nachhinein entschuldigen können. Dass sie das nicht getan haben, nehmen viele Menschen ihnen übel und einige sagen klar, dass sie nicht mehr wählen werden. „Wozu?“ fragen sie.