Der Verlauf der Flutkatastrophe
Erlebnisbericht M. Kelter / A. Holzapfel
Walporzheim
Dezember 2022
aufgeschrieben von Annette Holzapfel
Markus Kelter, Winzer aus Walporzheim berichtet:
„Die Katastrophe erleben ist eine andere Sache, als in der Katastrophe danach zu leben. Ich habe vier Baustellen: mein eigenes Haus, mein Elternhaus, meinen Weinberg und meine Mutter im Heim. Und was ist mit mir selber? Jeder Tag ist eine Herausforderung. In der Nacht habe ich rational funktioniert. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens.
Morgens früh war meine Mutter gestürzt. Sie wurde mit einem Rettungswagen nach Remagen gebracht.
Um 17.00 Uhr stand ich an der Ahr und beobachtete das Hochwasser.
Am Spielplatz wurden Sandsäcke für die erste Häuserreihe gefüllt.
Um 18.00 Uhr erreichte uns die Meldung, der Pegel Altenahr sei zwei Meter höher als der Höchststand 2016. Die Leute wurden nervös.
Um 19.00 Uhr ging ich in mein Elternhaus. Ein Nachbar hatte schon Sandsäcke aufgestellt. Ein anderer hielt den Kampf gegen die Flut bereits für verloren. Ich ging in Richtung Ahr, um erneut nachzusehen.
Meine Nachbarn und ich standen am Ahrufer und beobachteten das ständig steigende Wasser. Da tauchte aus dem Dunkeln ein ehemaliger Dorfbewohner auf. Er sagte ernst: „Fahrt die Autos weg! Das Wasser kommt von hinten, von der Bundesstraße, nicht aus Richtung Ahr. Er half beim Räumen der Häuser. Als dort das Wasser in die erste Etage stieg, hat er die Leute gepackt und tauchend aus dem Haus gerettet. Als U-Bootfahrer sei er so etwas gewöhnt, sagte er.
Ich habe dann im Haus meiner Mutter Sachen hochgestellt.
Die ersten Gegenstände schwammen über die Straße: Baumstämme, Holz, Gastanks, Weinfässer, Autos. Ich hörte eine Frau schreien, die das Wasser mitriss. Die Geräusche und Schreie vergisst man nicht.
Die Sirene ertönte als ich schon in der ersten Etage stand. Da hatte das Wasser bereits das Erdgeschoss geflutet. Ich füllte mir drei Flaschen mit Trinkwasser, solange es noch lief. Wie befürchtet fiel der Strom aus. Mit dem Restakkustand meines Handys setzte ich ein Lebenszeichen im Status ab.
Alles war unbegreiflich. Ich habe oft gesagt: „Lieber Gott, was passiert hier?“ In der Nacht hatte ich Angst, aber keine Todesangst.
Als das Wasser zurückging, wusste ich, dass es gut geht.
Gegen 05.30 Uhr, war das Wasser von der Straße abgeflossen. Fünf Polizisten bemühten sich, die Hochwassersituation zu regeln. Trümmer stapelten sich in der Straße. Alles war voller Matsch, Heizöl, Diesel, Wein, Fäkalien. Ich bin durch das Fenster rausgesprungen, weil alle Türen verkeilt waren.
Die Polizisten haben uns evakuiert, durch einen angeschwemmten Gastank bestand Explosionsgefahr. Beim Weg über die Weinberge zu meinem Haus begegneten mir 25 bis 30 evakuierte Gäste aus dem Hotel Sanct Peter. Wir guckten in unsere leeren, versteinerten Gesichter, sprachen kein Wort. Es war wie Endzeitstimmung.
Die Bundeswehr kam erst Tage später, Landwirte waren direkt hier um zu helfen. Von offizieller Seite: Totalausfall.
Drei Personen aus Walporzheim sind ertrunken.
Es gibt Leute, die jetzt bei Stromausfall, Sirenenalarm, Regen oder einem rauschenden Gartenschlauch Angst haben.
Wir haben keinen vernünftigen Katastrophenschutz. Die Kreisverwaltung und die ADD können das nicht. In Großbritannien sitzt die Europäische Flutwarnbehörde. Sie hat Deutschland gewarnt. Wo sind die Informationen hängen geblieben?
Keiner der Verantwortlichen hat sich entschuldigt, keiner hat gesagt: „Wir haben die Situation unterschätzt und waren überfordert.“
SolidAHRität
Landwirte von auswärts waren die ersten, die kamen, um zu helfen. Aus der nachbarschaftlichen Verpflegung zu Beginn entstand kurz darauf ein Versorgungszelt. Von diesem Zelt aus wurden viele Monate lang das gesamte Dorf, Helfer und Anwohner anderer flutbetroffener Orte verpflegt. Außerdem wurden vom Zelt aus diverse Hilfeleistungen sowie die Verteilung von Dingen des täglichen Bedarfs organisiert. Mitglieder der mennonitischen Gemeinde Neuwied waren unter den ersten und diejenigen, die am längsten blieben, um die Bevölkerung in Walporzheim verpflegen. Auch die Zeugen Jehovas und das „Haus der Hoffnung“ kamen, jedoch nicht, um zu missionieren, sondern einzig und allein aus Nächstenliebe. Helfer errichteten bereits nach wenigen Tagen Dusch- und WC-Container. Auch erste Hilfe und medizinische Versorgung wurden angeboten.