Situation im Ahrtal am 20.05.2023

Christian Falkenstein
Mai 2023

„Man hört gar nichts mehr - ist bei Euch wieder alles in Ordnung an der Ahr?“

Nein, es ist nichts in Ordnung an der Ahr, aber es wird jeden Tag ein Stückchen besser. Die Straßen werden hergestellt, hier und da funktioniert sogar wieder die Beleuchtung. Mehr und mehr Häuser werden wieder aufgebaut, doch es stehen auch noch viele Häuser entkernt da, weil Gutachten fehlen, weil es Uneinigkeit zwischen Besitzenden, Versicherungen oder der ISB gibt. Vielfach fehlt bis heute der Mut, die Kraft oder eine Einigung darüber, wer erbt oder wieder aufbaut.

Eine Bahnlinie haben wir noch immer nicht, dafür aber in einzelnen Orten Glasfasernetz. Das ist insofern bemerkenswert, weil mancherorts das Internet vor der Kanalisation wieder funktioniert.

Wie geht es den Menschen? Sie sind müde. Es dauert eine Zeit, doch irgendwann kommt noch immer das Thema auf die Flut, wenn wir "unter uns sind". Und dann gestehen die meisten, dass sie noch immer schlecht schlafen, dass sie Alpträume plagen, dass sie die Rollladen bei Regen schließen und regelmäßig besorgt den Pegel der Ahr kontrollieren. Wer noch nicht zurück in den eigenen vier Wänden ist, den verlässt so langsam der Mut und man fragt sich, ob man es nicht gleich drangeben soll mit dem ganzen Wiederaufbau. Wer wieder zu Hause ist, fühlt sich dort meist noch nicht so recht wohl. Fertig sind die meisten sowieso noch nicht. Wieder da heißt eben nicht zu Hause und noch lange nicht fertig.

Immer noch ist für viele Menschen der erste Spatenstich zum Neuaufbau nicht geschehen. Gutachtende, Versicherungen und Eigentümer:innen werden sich über die Konditionen des Aufbaus nicht einig. Versicherungen lassen sich auch zwei Jahre nach der Flut immer neue Hürden einfallen, um möglichst viel Geld einzusparen. Menschen bleiben auf ihren Kosten sitzen. Eine undurchsichtige und träge Bürokratie setzt dem Gesamtpaket das Sahnehäubchen auf.

Neue Husarenstücke der ISB werden bekannt. Für bereits erteilte Zusagen werden plötzlich neue Gutachten verlangt, vereinzelt zwei bis dreimal. Warum - darüber gibt es keine Information. Was genau? Fehlanzeige. Servicehotline oder Kontaktpersonen zum "reden" - wo wollt ihr hin!

Bild: Torsten Hinze

Wir werden sehr viel reifer und klüger an den Folgen der Flut. Nicht alle - es gibt auch jene, die absolut nichts gelernt haben. Jene, die den Nachbarn jeden Fortschritt neiden, die zu ihrem eigenen Vorteil Spenden und Gelder horten, obwohl sie längst nicht mehr bedürftig sind, jene, die ihren eigenen Vorgarten und die Grundstücksmauern höher legen, damit es lieber den Nachbarn flussabwärts in die Hütte läuft, als einem selbst und solche, deren Wiederaufbauleistung nur in der Pflege ihrer gekränkten Eitelkeit, ihres Egos oder ihrer Empörung in sozialen Medien besteht.

Andere wachsen. Nachbarschaft wächst vielerorts. Toleranz entwickelt sich, man erlaubt sich den Blick zu weiten. Hilfsbereitschaft bleibt, auch nach dem Wiederaufbau, echte Gemeinschaft entsteht, Mauern, Zäune und Gräben verschwinden. Wo viel Licht, da auch Schatten.

Wie sieht der Alltag aus? Viele waren, sind oder werden langfristig arbeitsunfähig. Der Weg zurück in den Job ist schwer, die Narben schmerzen. Es gibt auch jene, die irgendwie Glück hatten, die verständnisvolle Arbeitgebende haben, die irgendwie ihre Arbeitsfähigkeit erhalten haben oder die aufgrund ihrer Selbständigkeit einfach nicht anders konnten, als weitermachen.

An den langen Wochenenden, Feier- und Brückentagen strömen Tourist:innen und Ausflügler:innen an die Ahr. Das gibt Hoffnung. Gleichzeitig fühlt es sich fremd an. Ungefähr so müssen sich die Einwohnenden strukturschwacher und armer Länder fühlen, die vom Tourismus leben, wenn wir dort "einfallen". Es ist wirklich nicht böse oder abfällig gemeint, wenn ich sage, dass ich die Besuchenden des Tals von außerhalb wie Bewohnende von einem anderen Planeten empfinde. Ich bin manchmal traurig, manchmal aber auch dankbar, dass ich mit "denen da draußen" nicht mehr viel gemeinsam habe. Was das ist, kann man nur schwer erklären, vielleicht helfen ein paar ganz einfache Beispiele, um zu verstehen, warum wir Ahrtal-Aliens im Rest der Welt sind.

Bild: Frank Thelen

Ich berichte mal:
Der Tag beginnt morgens um 6:00 Uhr. Strom da, Wasser da, Heizung läuft, nirgendwo Wasser im Haus wo es nicht hingehört, mehr als 4 Stunden durchgeschlafen - heute könnte gut werden. Frühstück (alles da? Bäckerei und Supermarkt gibt es bei uns nicht mehr, was fehlt, gibts zum Frühstück nicht - basta). Um 7:00 Uhr zur Arbeit. Gleiches Spiel: mein Container - Strom da, Wasser da, Internet da, alles dicht? Gut. Im Winter - anheizen, im Sommer lüften, bevor die ersten zu mir kommen. Arbeiten bis mindestens 17:00 Uhr, oft länger. Zwischen den Terminen, der bange Blick aufs Telefon. Jeden Tag Handwerkende koordinieren, Nachfragen regeln, Material bestellen, Rechnungen bezahlen, Behördenkram erledigen. Dann kurz nach Hause, meist anschließend noch Abendtermine mit dem Schreibtisch zu Hause, oder Kolleg:innen, oder Organisationen - alles was so zum Engagement im Wiederaufbau dazugehört. Feierabend in der Regel nicht pünktlich zur Tagesschau, wegdämmern auf dem Sofa, wach ins Bett. So geht das von Montag bis Freitag. Der Samstag gehört meist den Sanierungsarbeiten, ab und zu gehts zum Einkaufen - gern auch in Baumärkte, Fliesenfachmärkte und so weiter. Ich war 2023 schon zwei oder dreimal in einer Stadt zum "Kaffee trinken, bummeln und Einkaufen von Nicht-Baustoffen". Allerdings hat sich das nicht gut angefühlt. Der Sinn für die Alltagsprobleme der Welt ist mir leider völlig abhandengekommen und wenn ich im Café gefragt werde, ob ich laktosefreie Milch oder Karamellsirup haben möchte, fehlt mir schlicht die Fähigkeit zu einer sinnstiftenden Antwort. Und dann kommt er, der heilige Sonntag. Endlich Zeit für uns - also für den eigenen Haushalt - ist ja alles liegen geblieben in der Woche. Wäsche, Putzen, Bügeln... der Sonntagstriathlon eben. Wobei putzen muss man irgendwie täglich, denn es knirscht und staubt eigentlich immer bei uns im Tal. Wenn es richtig super läuft, dann ist noch ein Spaziergang und ein Treffen zum Abendessen mit der Familie drin - und dann ist ja auch bald schon wieder Montag. Wegen des mittlerweile fortschreitenden Alters und der Flutschäden im System werden in eventuell freiwerdende Zeitfenster Arzttermine eingebucht.
Feiertage (wie z.B. kürzlich den Tag der Arbeit) nehmen wir wörtlich und arbeiten auf unserer Baustelle. Brückentage verbringen wir im Büro oder vor dem Computer - Buchführung und Steuer kennen keine Gnade und keinen Aufschub. Und dann dieses Gefühl, wenn Du unter Deinen Papieren erstmals wieder die Farbe Deines Schreibtischs erkennst... das sind die kleinen Freuden der Ahrtaler.
Wann immer es dann die Arbeit aller Orten zulässt, gönnen wir uns einen kurzen oder manchmal auch längeren Urlaub, denn wir müssen immer wieder dringend hier raus, um das nicht sehen zu müssen, dessentwegen andere am Wochenende an die Ahr reisen.
Nur noch zwei bis drei Jahre, dann können wir vielleicht wieder mit der Eisenbahn fahren, schauen aus dem Fenster und sehen keine Ruinen mehr, waschen spießig samstags unser Auto, weil wir wissen, dass es sonntags nicht schon wieder völlig verdreckt ist, überlegen uns, ob wir ein blaues oder weißes Oberhemd kaufen wollen und wie wir unseren Kaffee am liebsten trinken.

Dann sind wir vielleicht irgendwann keine Ahrtal-Aliens mehr. Bis dahin bitten wir um Verständnis, dass wir manchmal unpassend oder gar nicht antworten, wenn ihr mit uns redet. Wir sind nicht unhöflich und ihr macht auch gar nichts falsch, wir verstehen euch nur manchmal einfach nicht oder wir sind zu müde oder mit den Gedanken schon wieder woanders oder alles zusammen.

Bild: Annette Holzapfel