Aufgeben ist (k)eine Option

Annette Holzapfel
Januar 2023

Zuversicht und Verzweiflung nach der Flutkatastrophe

Auf einem äußerlich intakten, innen jedoch zerstörten Haus im Weindorf Dernau, in dessen oberstem Stockwerk drei Menschen die Flut überlebten, steht in großen, bunten Buchstaben geschrieben: „Aufgeben ist keine Option.“ Edyta Bertram, in Bunzlau (Polen) geboren und seit vielen Jahren mit einem Dernauer verheiratet, besprühte und bemalte sechs Wochen nach der Flut mit ihrer Tochter Luisa sowie ehemaligen Schülerinnen und Freunden das Haus ihres Schwiegervaters und verwandelte es in ein Hoffnungshaus, auf dem Wörter wie „SolidAHRität“, „hope“, „home“, „gemeinsam wieder aufbauen“ und Smileys zu sehen sind.

Jeder Mensch braucht Hoffnung und Zuversicht als Nahrung für seine Seele. Dennoch wollte Edyta eines Tages, als Wut und Verzweiflung in ihr hochkrochen, das „K“ auswischen und den Slogan in „Aufgeben IST EINE Option“ ändern.

Als die Menschen begannen, sich von ihrem Schock zu erholen, schöpften viele - vor allem dank der Heerscharen von Helfenden, die ins Ahrtal kamen - Mut und Zuversicht, ihre Häuser und Geschäfte wieder aufbauen zu können und dass das Tal eines Tages noch schöner sein würde als zuvor. „Bin gleich wieder da“, „Wir machen weiter“, „Wir sind bald wieder für Sie da“, „Wir bauen wieder auf“, „Ahrweiler lebt“, „Gemeinsam sind wir stAHRk“ und viele ähnliche Aussagen konnte man Ende 2021 auf Spruchbändern, selbst ausgeschnittenen Papierherzen oder Pappkartons sowie auf von der Flut noch schmutzigen Fensterscheiben lesen.

Bild: Annette Holzapfel

Mit der Zeit jedoch, als deutlich wurde, wie langsam der Wiederaufbau von statten gehen würde, verloren viele die Hoffnung. Vor allem ältere Menschen entschieden, aus dem Tal wegzuziehen, weil sie keine Kraft mehr hatten, um ihre zerstörten Häuser aufzubauen oder Angst hatten, das Geschehene noch einmal zu erleben. Andere bleiben zwar im Ahrtal, können ihre Angst vor dem Wasser aber nicht mehr überwinden. Sie würden ihr Haus gern auf einem höher gelegenen Grundstück bauen, aber da hakt es bei den Baugenehmigungen. In Kreuzberg dürften von ehemals 650 Einwohner:innen 100 nicht wiederkommen. Bad Neuenahr verlor sieben Prozent seiner Einwohner:innen. Manche suchten einen Käufer oder eine Käuferin für ihre Häuser, baten Freunde oder Bekannte, es ihnen abzukaufen. In Schuld ließ eine ältere Frau das verwüstete Erdgeschoss ihres Hauses in dem Zustand, wie die Flut es hinterlassen hatte und bewohnt nun nur das Obergeschoss. 90 Prozent der Einwohner:innen von Schuld lebten im Februar 2022 wieder in ihren Häusern; zehn Prozent fehlte noch die Kraft. „Wenn ich in die Gesichter der Menschen schaue, erkenne ich ihre Traurigkeit; wenn sie hier im Dorf wieder feiern, sind sie nicht wirklich fröhlich“ sagt Weinbaupräsident Hubert Pauly, der in Dernau lebt und dort jeden kennt.

In den Tagen oder Wochen nach der Flut starben alte Menschen an Herzinfarkten oder ähnlichen Krankheiten. Andere stürzten und starben kurz darauf. Es gab Selbstmorde und Selbstmordversuche. Der Dorfälteste von Marienthal erhängte sich in einem Seniorenheim aus Verzweiflung, weil er nicht mehr in sein Haus zurückkonnte. Viele 80-, 90- und 100jährige wurden aus ihren zerstörten Wohnungen evakuiert, von ihren Kindern getrennt und in weit entfernte Seniorenheime gebracht. Dort wurden viele unselbstständig, orientierungslos und un­fähig, eines Tages im eigenen Haus zurechtzukommen. Es gab auch Senior:innen, die sich dazu entschlossen, ihrem Dorf für immer den Rücken zu kehren und in ein Seniorenheim zu zie­hen. Über zwei Jahre nach der Flut suchen immer noch Betroffene therapeutische Hilfe, weil sie ihre Traumata nicht überwinden können. Lange hörte man von Menschen, die vor Verzweiflung müde wurden und die der Lebensmut verlassen hatte. Darüber, wie viele Men­schen an der Flut gestorben sind, gibt es keine Statistiken.

Bild: Verena Kastenholz

Wie die Flut bei einigen Menschen eineinhalb Jahre nach der Katastrophe ihren Tribut fordert, berichtet der Mitarbeiter eines Infopoints. Selbst zu einfachen Aktivitäten wie Telefonaten oder dem Gang zum Infopoint, um einen Antrag auf Hilfe zu stellen, seien sie nicht in der Lage. Entscheidungen zu treffen sei für viele unmöglich, weil sie sich ihre eigene Zukunft gar nicht vorstellen könnten. „An einem Tag möchten sie genau das Gegenteil von dem, was sie an einem anderen Tag wollen. So ist es schwer, ihnen zu helfen.“ Einige alte Menschen informieren niemanden, wenn sie in ihrer eiskalten Wohnung frieren. Sie legen sich mit dicken Pullovern ins Bett und bleiben allein.

Dass es aufgrund von bürokratischen Hürden, Rückschlägen, verantwortungslosen Gutachter:innen, steigenden Mieten, Bauzinsen und Energiepreisen, Inflation, ebenso wie dem Mangel an Handwerkenden und Baumaterial nicht voranzugehen scheint, macht immer noch viele Betroffene mürbe. Manche fühlen sich zu alt, um ihre Häuser oder ihre Betriebe wieder aufzubauen.

Man trifft Menschen, bei denen das Erlebte plus vieler Rückschläge und Enttäuschungen beim Wiederaufbau, zu Verzweiflung und Niedergeschlagenheit führt. Gleichzeitig trifft man Menschen, bei denen das Fluterlebnis und seine Folgen Kreativität und Innovationskraft beflügelt haben. Der Verlust hat sich bei ihnen in Kraft und die Lust verwandelt, Großes zu schaffen. Für sie birgt die Zerstörung die Chance, das Ahrtal zu einer einzigartigen Region zu machen. Begegnungen mit solchen Menschen wohnt ein starkes Gefühl der Verbundenheit und des Zusammenhalts inne. Es potenziert sich der Glaube daran, dass man es gemeinsam schaffen wird, ein ganzes Tal voranzubringen, wiederaufzubauen, zu modernisieren und es für den Tourismus aus ganz Deutschland attraktiv zu machen.

Bild: Rolf Schmitt

Andere haben zwar neuen Mut geschöpft, aber dem Ahrtal den Rücken gekehrt. Die Inhaberin eines Bekleidungsgeschäftes, die in der Flutnacht den größten Teil ihrer Waren verlor, entschied sich, nicht in ihren verwüsteten Laden in Bad Neuenahr zurückzukehren. Ihre Laufkundschaft und die Kurgäste würden für lange Zeit ausbleiben, argumentierte sie. Per WhatsApp informierte sie ihre Stammkundschaft mit einem Video über das Geschehene und warb für ihren neuen Laden in einem 20 Kilometer entfernten Ort. Sie ist frohen Mutes, dass es mit ihrem Geschäft dort gut weitergeht.

Manche empfanden, dass der Wiederaufbau sich für sie nicht mehr lohnen würde, da sie bereits zu alt wären oder das Geld für eine neue Investition bis an ihr Lebensende nicht wieder reinholen könnten. So gab es Metzgereien, Gastronomien und andere, die nach der Flut „aufgaben“, auch weil die Kundschaft aus der Zeit vor der Flut ihrer Meinung nach nicht mehr wiederkehren würde. Obwohl er sein ganzes Leben selbstständig war, entschied ein ehemaliger Tankstellenbetreiber sich dafür, eine Stelle in einer großen Gärtnerei anzunehmen. Die Flut hatte seine Existenz vollständig vernichtet, viele seiner Kundinnen und Kunden waren fortgezogen, Touristen und Touristinnen ka­men nicht mehr.

Bild: Maternus Gasper

Manche Betriebe hatten Glück. Helfende kannten sich mit den Maschinen aus und reparierten sie. Andere erhielten Geräte und Maschinen geschenkt oder ehemalige Kundschaft sprachen ihnen Mut zu. Die Initiative, bereits wenige Wochen nach der Flutkatastrophe deutschlandweit „Flutwein“ zu verschicken, spülte vielen Winzer:innen Kapital und Hoffnung ins Haus und garantierte Platz, um den neuen Jahrgang zu lagern. Vor dem völlig zerstörten Gebäude der Winzergenossenschaft Mayschoß reinigten Helfende wochenlang Schlamm von den Weinflaschen und räumten auf; andere reparierten die defekten Maschinen. Alle Trauben konnten im Herbst 2021 zu Wein verarbeitet werden. Ein weiteres Zeichen der Hoffnung setzten Geschäftsführung und Kellermeister 2022 und 2023 mit den Jahrespräsentationen in der wieder hergerichteten Produktionsstätte. Die Besucherzahlen - gut die Hälfte waren Neukundschaft - übertrafen alle Erwartungen. An Ideen und Kreativität mangelte es dem „Kellerteam“ nicht. Es organisierte After Work Partys und stellte den Inhabenden eines völlig zerstörten Restaurants Räumlichkeiten der Genossenschaft zur Verfügung. Das neue Lokal mit dem Namen „Krisenherd“ zog Gäste und Tourist:innen an, die an sonnigen Tagen beim Blick auf die malerische Saffenburg Wein und Flammkuchen genossen.

Freude und Zuversicht manifestierten sich in den Weinfesten, Winzerumzügen und Martinsfeiern, die nach dreijähriger Zwangspause wieder stattfanden. Das Motto des Walporzheimer Weinfestes im August 2022 „Erst Corona, dann die Flut, doch wir bleiben trotzdem hier“ war ein überdeutliches Bekenntnis zu Heimatverbundenheit und Tradition. Selbst die von der Flut vollständig zerstörten Festwagen trübten nicht die Freude darüber, wieder fröhlich beisammen zu sein und Menschen von nah und fern treffen zu können. Ehemalige Helfende bauten die Buden für die Weinstände auf und stellten eine Band. Dernau, einst berühmt für den größten Winzerumzug, beeindruckte mit einem kleinen, aber sehr originellen Umzug, dessen Motivfußgruppen die Herzen der Bevölkerung von Dernau erfreuten. „Hat uns die Flut so sehr betrübt, wollen wir, dass unser Ahrtal wieder blüht“ lautete das Motto der Loddemöhne im September 2022. Mit großen Sonnenblumen auf Hüten und Schürzen ge­schmückte Gärtnerinnen hatten nur einen Wunsch: „Unser Dorf soll wieder blühen“. Beim Mayschosser Weinfest im Oktober 2022 erinnerten Redner und Rednerinnen daran, wie wichtig die im September 2021 ins Leben gerufene Initiative „Wandern für den Wiederauf­bau“ war, um wieder Tourismus ins Ahrtal zu holen.

Bild: Frank Thelen

Für eine 50jährige Altenahrer Winzerin war Aufgeben nie eine Option. „Es muss ja weitergehen; es nützt ja nichts, wer nicht weitermacht und nicht mehr aufbaut, ist ein Feigling“, sagte sie kurz nach der Flut. Vor allem für ihre Kinder wollte sie wieder aufbauen. Ihrem Sohn, der den Betrieb inzwischen leitet, gelang es dank guter Kontakte, hilfsbereiter Freunde und Kreativität die völlig zerstörte Kellerei wieder herzurichten und darin ein Restaurant zu betreiben. Bereits Anfang Oktober 2021 lud er zu einer Open-Air-Party am Ahrufer ein, auf der über 1000 junge Menschen nach dem Lockdown das Leben ausgelassen feierten. Im November 2022 führte sein Koch, der als Helfer ins Ahrtal gekommen war, stolz durch ein modernes, einladendes Restaurant, das aus den Trümmern des Erdgeschosses erstanden war. Dort kredenzt der Winzer eine Spätburgunderedition mit dem Namen „Phoenix“, der, der aus der Asche auferstand.

Dank ihres Mutes und ihrer Entschlossenheit schreckten Jungwinzer:innen und junge Gastronom:innen nicht vor dem kraftzehrenden Wiederaufbau zurück, sondern sahen darin die Chance zur Modernisierung und Erfolgssteigerung. So haben einige, die die Flutnacht fast nicht überlebt hätten, ihre Betriebe erstaunlich schnell wieder aufgebaut und modernisiert. Dazu gehört auch die Familie Sion in Müsch, Betreibende einer im Umkreis weit bekannten Fischräucherei, deren äußerst modern eingerichtetes Fischlokal sich eineinhalb Jahre nach der Flut freitags mit Gästen von nah und fern füllt.

Dass Stammgäste wiederkommen macht den Gastronomien Mut. Aber ihnen ist auch klar, dass es ohne Werbung nicht geht, dass sie noch kreativer sein müssen, um Tourist:innen anzusprechen und zufrieden zu stellen. Da immer noch viele ehemalige Tourist:innen glauben, ein Besuch im Ahrtal sei noch nicht möglich, startete der Ahrtal-Tourismus 2022 eine Werbe-Kampagne mit dem Motto „We AHR open - noch lange nicht fertig, aber offen und froh über Deinen Besuch.“

Da sind diejenigen, die es geschafft haben, ihre Betriebe schnell wieder aufzubauen und die sich auf Kundschaft freuen. Sie werden mehr. Andere warten noch bis Ende 2024, bis der Betrieb wieder aufgebaut ist, wieder andere bauen ihn nie mehr auf. Da sind auch diejenigen, die ihr Eigenheim schnell wieder aufgebaut haben. Einige von ihnen fühlen sich bis heute fremd in den eigenen vier Wänden. Und da sind Anfang 2024 auch diejenigen, die mürbe sind, weil sie den Wiederaufbau als zu schleppend empfinden. Viele Menschen sind dünnhäutig geworden, weil Belastungen nicht ab- sondern zunehmen.

Bild: Annette Holzapfel