Das Hochwasser 2021 – Entstehung, Ausmaß und Einordnung

Thomas Roggenkamp
2024

Den folgenden Text schrieb Thomas Roggenkamp, Geograf und Hochwasserforscher, Universität Bonn:

Wie kam es zum Extremhochwasser vom Juli 2021?

Ein Blick auf die vergangenen schweren Hochwasser im Ahrtal zeigt, dass diese auf einzelne Starkregen zurückzuführen sind. Im Falle des Hochwassers vom Juli 2021 waren es extreme Niederschlagsmengen, die durch das Tief „Bernd“ eingebracht wurden. Dieses, aus Richtung Frankreich kommende, Tiefdruckgebiet zeichnete sich aufgrund einer Trogwetterlage als relativ ortsfest aus. Feuchtwarme Luftmassen aus dem Mittelmeerraum gelangten in einem Bogen um das Zentrum des Tiefdruckgebiets nach Deutschland. Aufgrund der erzwungenen Hebung dieser feuchten Luftmassen an den Mittelgebirgen und der damit einhergehenden Abkühlung kam es insbesondere in der nördlichen Eifel zu anhaltendem Starkregen. Die Niederschläge waren nicht nur ortsfest, sondern auch ungewöhnlich lange anhaltend, da stetig weitere wassergesättigte Luftmassen herangeführt wurden.

Lothar Woik
Lothar Woik

Weitflächig erreichten die Niederschlagsmengen am 14. Juli Summen von über 100 mm innerhalb von 72 Stunden, lokal wurden sogar Summen von über 150 mm innerhalb von 24 Stunden verzeichnet. Über dem Ahr-Einzugsgebiet verteilten sich die Niederschläge keinesfalls gleichmäßig. Es zeigte sich ein Gefälle vom niederschlagsreichen Nordwesten zum vergleichsweise niederschlagsarmen Südosten. Bereits in den Tagen zuvor wurden über dem Ahrtal ergiebige Niederschläge registriert, wodurch die oberen Bodenschichten durchfeuchtet wurden. Der anhaltende Starkregen des 14. Juli traf somit auf Böden, die bereits weitgehend gesättigt waren. Der freie Bodenwasserspeicher betrug teilweise weniger als 10 mm, was zur Folge hatte, dass lediglich ein Bruchteil der Niederschläge versickern und somit im Boden zwischengespeichert werden konnte.

Starkregen allein führt allerdings nicht zwangsläufig zur Entstehung eines Hochwassers. So wie viele Mittelgebirgsregionen weist auch das Ahrtal eine Topographie auf, welche zur Bildung von Hochwassern förderlich ist. Das Einzugsgebiet der Ahr ist durchzogen von zahlreichen größeren und kleineren Bachsystemen. Niederschläge werden in den Seitentälern (meist Kerbtäler) kanalisiert, schnell in den Bächen gesammelt und zur Ahr hin abgeführt. Aufgrund der kompakten Form des Einzugsgebietes und den relativ kurzen Bachläufen wurden die einzelnen Hochwasserwellen aus den Seitentälern zeitlich kaum versetzt in die Ahr eingebracht. Hieraus erklären sich das plötzliche Auftreten und der rasche Anstieg der Hochwasserwelle.

Für Informationen zu den Seitentälern und Nebenbächen des Ahrtals, sehen Sie auch:
"Die Ahr und ihre Nebenbäche" von Jürgen Haffke
Bild: Wolfgang Lingen

Rekonstruktion des Spitzenabflusses

Schon in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 wurde deutlich, dass dieses Hochwasser ein an der Ahr bis dato unbekanntes Ausmaß erreichen würde. Die bisherigen bekannten Spitzen-Pegelwerte wurden deutlich überschritten. Zur Erfassung der Wasserstände reichte die Dimensionierung der Pegelstationen oft nicht aus, ja teilweise wurden diese sogar im Zuge des Hochwassers zerstört. So lieferte der Pegel in Altenahr seinen letzten Messwert am 14. Juli um 19:45 Uhr mit einem Wasserstand von 575 cm (Daten des LfU Rheinland-Pfalz 2022). Ein Wert, der im Laufe der Nacht deutlich überschritten werden sollte.

Da die tatsächliche Pegelhöhe und somit auch der höchste Abfluss nicht gemessen werden konnte, ist eine Vergleichbarkeit zu bisherigen Hochwasserereignissen schwierig und eine statistische Einordnung nicht möglich. Ein erstes Herantasten an entsprechende Daten erfolgte zunächst anhand von Wasserstandsmarken. Diese fanden sich in Form von bräunlichen Schleiern an nahezu sämtlichen Bauten entlang der Ahr. Hieraus ergaben sich sehr unterschiedliche Angaben zu Wasserstandshöhen von beispielsweise 10,10 Metern in Altenahr, wohingegen 10 km weiter flussabwärts unterhalb von Rech „nur“ 5,90 Meter erreicht wurden. Diese Abweichungen sind nur auf den ersten Blick widersprüchlich, begründen sich jedoch in der lokal unterschiedlichen Topographie: Bei Altenahr ist das Tal sehr eng. Die Ahr findet also bei Hochwasser seitlich kaum Platz und steigt gezwungenermaßen in die Höhe. Zwischen den Orten Rech und Dernau weitet sich das Tal wieder. Die Talsohle weist hier eine Breite von etwa 400 Metern auf. Die gleiche Wassermenge konnte sich somit in der Breite ausdehnen, wodurch die Wassertiefe hier geringer war. Dies soll beispielhaft verdeutlichen, dass der Wert des Wasserstandes allein nicht ausreicht, um die Größe eines Hochwassers anzugeben und sich Wasserstände verschiedener Lokalitäten kaum miteinander vergleichen lassen.

Lothar Woik
Lothar Woik

Besser geeignet für die Vergleichbarkeit ist der bereits erwähnte Abfluss. Genauer der Scheitelabfluss, also jener Abfluss, der zum Zeitpunkt des höchsten Wasserstandes erreicht wurde. Dieser Wert wurde im Nachhinein rekonstruiert.

Die Untersuchungen von Roggenkamp und Herget (2022) zeigen, dass der Scheitelabfluss im Bereich des Mittellaufes (konkret zwischen Rech und Dernau) zwischen 1.030 und 1.230 m³/s lag. Der bisher größte gemessene Abfluss (236 m³/s am 2. Juni 2016 in Altenahr) wurde somit um das Fünffache überschritten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Studie von Duong u. Hatz (2023) mit einem rekonstruierten Scheitelabfluss an der Ahr-Mündung zwischen 1.127 und 1.143 m³/s. Die entsprechenden Rekonstruktionen der Scheitelabflüsse der Nebenbäche zeigen, dass insbesondere die Bäche des nördlichen Einzugsgebietes stark wasserführend waren und ein Großteil des Ahr-Hochwassers im Bereich des Sahr- und Armuthsbachs entstand. Mit rekonstruierten Scheitelabflüssen zwischen 180 und 225 m³/s (Armuthsbach) sowie 155 und 195 m³/s (Sahrbach) erreichten diese Bäche bereits Abflussmengen, welche selbst in der Ahr (statistisch gesehen) nur alle zehn bis 50 Jahre erreicht werden (LfU Rheinland-Pfalz 2022).

Bild: Benjamin Westhoff

Ein Hochwasser vergleichbarer Größe hat sich bereits 1804 im Ahrtal ereignet. Obwohl sich die maximalen Abflussgrößen von 1804 und 2021 sehr ähneln, wurden im Juli 2021 dennoch teilweise deutlich höhere Wasserstände erreicht. Dies zeigt sich beispielsweise im alten Ortskern von Dernau, wo an einem Wohnhaus Hochwassermarken die maximalen Wasserstände der Hochwässer vom Juni 1910 und Juli 1804 anzeigen. Dazu wurden die Wasserstände von 2021 sowie (als Referenz) von 2016 markiert. Die Markierung von 2021 liegt etwa 2,4 Meter oberhalb der historischen Hochwassermarke von 1804. Wie kommt, trotz vergleichbarer Abflussgröße, eine solche Diskrepanz zustande? Hierfür sind zwei Faktoren entscheidend. Zum einen gab es 2021 deutlich mehr Brücken entlang der Ahr. Diese fungierten während des Hochwassers als Treibgutfänger. Durch Verklausungen von PKWs, Campingwagen, Containern, Baumstämmen etc. entstanden künstliche Dämme, welche die Ahr lokal aufstauten. Hieraus resultierten räumlich begrenzt überhöhte Wasserstände, die nach dem Bruch des Dammes wieder sanken, bis die nächste Flutwelle den Wasserstand erneut nach oben trieb. Zum anderen existierte eine deutlich dichtere Bebauung innerhalb der Ortschaften. Das Beispiel Dernau zeigt dies deutlich. Während Dernau zum Zeitpunkt des Hochwassers von 1804 noch aus einer kleinen Ansammlung von Häusern bestand, die sich lediglich über wenige Straßen erstreckte, ist die Talsohle hier inzwischen fast vollständig bebaut. Bei Hochwasser steht der Ahr somit weniger Raum zur Verfügung und sie muss ausweichen. Da aufgrund der Talenge die Möglichkeit des seitlichen Ausweichens begrenzt ist, bleibt dem Wasser nur der Weg in die Höhe.

Bild: Torsten Hinze

Das Hochwasser vom Juli 2021 hat deutlich gezeigt: Die gesamte Talsohle des Ahrtals gehört zum natürlichen Überflutungsbereich und wurde auch schon in der Vergangenheit bis an die steilen Hänge überflutet. Auch wenn sich indirekte Einflussnahmen des Menschen auf das Hochwassergeschehen, wie beispielsweise der des vom Menschen verursachten Klimawandels, kaum beziffern lassen, hat der Mensch doch einen wesentlichen direkten Teil zum Hochwassergeschehen beigetragen. Die dichte Besiedlung, die zahlreichen Brücken sowie die Unmengen an künstlichen Treibgütern führten lokal zum Aufstauen des Wassers und überproportional hohen Wasserständen.

Mit dem Verschwinden vergangener Hochwässer aus dem kollektiven Gedächtnis, sank das Bewusstsein für Hochwasserrisiken, und die Siedlungen dehnten sich teils bis unmittelbar an das Ufer der Ahr aus. Erst diese Entwicklungen sorgten dafür, dass im Juli 2021 aus einem selten auftretenden Naturereignis eine Katastrophe wurde.

Bild: Cornelia Schlagwein

Statistische Einordnung – überhaupt möglich?

Wie ist das Hochwasser vom Juli 2021 statistisch zu bewerten? War es ein Jahrhunderthochwasser? Oder gar ein Jahrtausendhochwasser? Diese Frage lässt sich nicht abschließend klären; zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Eine wesentlich längere Messreihe ist notwendig, um belastbare Statistiken zu derart seltenen Hochwasserereignissen zu berechnen. Zwar ist die Berechnung eines „HQ100“ also eines Hochwassers, dessen Abfluss durchschnittlich einmal in 100 Jahren erreicht wird, anhand einer durchgehenden Messreihe ab einer Messdauer von 30 Jahren möglich, die Realität zeigt allerdings die Begrenztheit der Aussagekraft. Das bisherige HQ100 wurde für den Standort Altenahr bislang mit 241 m³/s angegeben (LfU 2022), einem Wert, der im Juli 2021 deutlich überschritten wurde. Handelt es sich bei dem Hochwasser von 2021 also doch um ein Jahrtausendhochwasser? Oder muss die Berechnung des HQ100 angepasst werden? So oder so, die bisherige Messreihe ist zu kurz, um sich auf die berechneten Werte verlassen zu können. Daher ist die Einbeziehung historischer Hochwässer unabdingbar. Eine Berücksichtigung insbesondere der Hochwässer von 1804 und 1910 hätte das bestehende Hochwasserrisiko wesentlich besser aufzeigen können, als es allein durch die Pegelaufzeichnungen der Fall gewesen ist. Solche punktuellen Ereignisse der Vergangenheit lassen sich nur schwer der Statistik einer durchgehenden Messreihe hinzufügen. Doch hätten diese Hochwässer zumindest das Potential aufgezeigt, welches in der meist so unscheinbar plätschernden Ahr steckt. Abgesehen von den genannten Hürden bei der Berechnung einer belastbaren Hochwasserstatistik anhand von zu kurzen Messreihen weisen die Ergebnisse aus HQ-Berechnungen generell gewisse Schwächen auf. Zum einen darf man sich nicht von der Vokabel „Jahrhunderthochwasser“ täuschen lassen. Es bedeutet freilich nicht, dass nach einem solchen Hochwasser erst wieder in 100 Jahren das nächste derartige Ereignis zu erwarten ist. Es besagt vielmehr, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen Hochwassers jedes Jahr bei einem Prozent liegt. Zum anderen darf man nicht von einem sogenannten stationären Abfluss ausgehen, also einem Abflussverhalten, das über lange Zeiträume unverändert bleibt. Insbesondere Veränderungen des Klimas hatten schon immer einen Einfluss auf Flüsse und deren Abflussschwankungen. Durch den vom Menschen gemachten Klimawandel wird sich das zukünftige Abflussverhalten vom heutigen unterscheiden. Wie dies konkret aussehen wird, lässt sich heute nicht abschließend beantworten, doch legen Studien der Klimatologie den Schluss nahe, dass sich die Frequenz von extremen Hochwasserereignissen erhöhen wird. Hochwasser wie das des Juli 2021 werden somit eher häufiger auftreten.