Die Flut schafft zukunftstragende Organisationsformen
Annette Holzapfel
Im Mai 2022 verlieh die Europäische ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung den Winzerdörfern Dernau, Mayschoß und Rech den „Sonderpreis zur Ermutigung“ des „Europäischen Dorferneuerungspreises“. Die international besetzte Jury hatte die drei Dörfer schon vor der Flutkatastrophe besucht. Nun würdigte sie ausdrücklich ihren beispielhaften gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie die Innovationskraft für einen nachhaltigen Wiederaufbau. Die aus den Menschen selbst erwachsende Stärke sei das wichtigste Fundament für den Wiederaufbau nach der Flutkatastrophe, hieß es in der Begründung.
Am 15. Juli 2021, am Tag nach der Jahrhundertflut, war die Bevölkerung im Ahrtal mit Problemen konfrontiert, deren Ausmaß ihre Kräfte überstieg. Die kriegsähnliche Zerstörung, die die zur reißenden Flut gewordene Ahr in wenigen Stunden angerichtet hatte, führte nach der Flutnacht, in der viele um ihr Überleben gekämpft hatten, zu einem bösen Erwachen.
Zusätzlich zur furchtbaren Zerstörung war Mayschoß von der Außenwelt abgeschnitten. Man musste sich also selbst helfen. „Alle begriffen, dass wir uns aufraffen mussten. Der ganze Ort war beeinträchtigt. Da musste man sich engagieren, um ein normales Leben wieder zu ermöglichen“ berichtete Hartwig Baltes, Winzer und Erster Beigeordneter sowie nach der Flut kommissarischer Ortsbürgermeister von Mayschoß. Den Grund für den Aufbau einer äußerst effizienten Organisation ab dem zweiten Tag nach der Flut sah er darin, dass die Initiative mit Entschlossenheit ergriffen wurde und weil man sich innerhalb der ländlichen Bevölkerung „hilft und sich gegenseitig aus dem Dreck zieht.“ „Extremsituationen mobilisieren ungeahnte Kräfte“ schreibt Sebastian W. Schmitz in seiner 2022 publizierten Chronik „Mayschoß und die Flutkatastrophe am 14. Juli 2021“. Der Genossenschaftsgedanke, die Gewohnheit, nicht nur für sich selbst, sondern für alle anderen Verantwortung zu übernehmen, habe den Ort geprägt, sagen Baltes und Hubertus Kunz, langjähriger Ortsbürgermeister.
Viele Bewohner und Bewohnerinnen gehören der 1868 gegründeten Winzergenossenschaft an, deren Grundprinzip ist, einander zu vertrauen. Deshalb wussten die Mayschosser:innen, dass sie sich aufeinander verlassen konnten. Dass in der Krise ein Netz und Urvertrauen vorhanden waren, sei, so Kunz, wichtig gewesen. Unter den Dorfbewohner:innen und Helfenden seien alle Fähigkeiten gefunden worden, die das Dorf in seiner Not gebraucht hätte. Allen wurde Wertschätzung entgegengebracht. Dieses positive Erlebnis setzte wiederum neue Kräfte frei und steigerte die Motivation.
Am zweiten Tag nach der Flut wurde ein Krisenstab gebildet, der es sich zur Aufgabe machte, Versorgungsstrukturen aufzubauen, die Bevölkerung zu informieren, Hilfen zu vermitteln und zu koordinieren sowie Kontakte zu Behörden und Organisationen herzustellen. Der Krisenstab definierte klare Zuständigkeiten und entschied, wer für welche anstehenden Aufgaben eingesetzt wurde. Die Leitung des Krisenstabs oblag Gerd Baltes, der als Polizeibeamter bei Auslandseinsätzen solide Erfahrungen mit Katastrophen erworben hatte. Baltes benannte 27 Mitarbeitende, von denen alle für einen anderen Einsatzbereich zuständig waren: Infrastruktur, Verkehr, Versorgung mit Nahrungsmitteln, medizinische Versorgung, Wasserversorgung, Müllentsorgung, später auch die Koordination der freiwilligen Helfenden. Während Stabsleitung und der Erste Beigeordnete alle Aktivitäten abstimmten, nahmen an den anfangs täglichen Sitzungen auch Vertretende von Berufsfeuerwehren, Bundeswehr, THW und vor Ort tätiger medizinischer Hilfsorganisationen teil. Zusätzlich hatte der Krisenstab etwa 80 Unterstützende, die für Essenszubereitung und -ausgabe, Versorgungsfahrten, Kinderbetreuung und vieles mehr zuständig waren.
Besonderes Augenmerk legte der Krisenstab auf eine rasche Instandsetzung der Kanalisation (dabei unterstützte die Feuerwehr aus Neustadt an der Weinstraße) sowie die Einrichtung von Müllsammelstellen. Durch den Abtransport verdorbener Lebensmittel, Müllentsorgung und Hygienevorsorge wurde jegliche Seuchengefahr gebannt und man brauchte keine, von außen angeordnete, Evakuierung zu fürchten.
Der Krisenstab kümmerte sich um alle Belange. Die von der Flut Betroffenen hatten für jedes Problem jemanden, an den sie sich wenden konnten. Keine traumatisierte Person blieb mit ihren Problemen allein, weil Anneliese Baltes als Mitglied des Krisenstabs versuchte, sich einen vollständigen Überblick darüber zu verschaffen, wie es den einzelnen Bewohnenden eines jeden Hauses zumute war.
Am zweiten Tag nach der Flut wurde die Kirche zum Lager umgewandelt, sodass die Einwohnenden ihre nicht verdorbenen Lebensmittel dorthin bringen und mit anderen teilen konnten. Wer einen Traktor besaß, fuhr in den oberhalb gelegenen Ort Kalenborn, holte dort Wasser aus dem Hydranten und brachte es nach Mayschoß. So wurde das Wasserproblem schon am zweiten Tag weitgehend gelöst.
Dank der Unterstützung der Bundeswehr wurden alle Pflegebedürftigen ausgeflogen und in Krankenhäuser, Pflege- und Altenheime gebracht. Um die Versorgung kümmerten sich viele Einwohnende, Freiwillige und später das DRK. Ein Hubschrauber brachte Lebensnotwendiges wie Nahrungsmittel, Kleidung und Medikamente. Flutlichtmasten wurden aufgestellt, eine Notbeleuchtung und ein eigenes Funknetz installiert. Schließlich wurde eine mobile Kläranlage gebaut.
Da ein Zufahrtsweg geschaffen werden musste, baute die Bevölkerung in Mayschoß unter Leitung des Beigeordneten Jörg Jeckstadt in nur sechs Tagen mit der Unterstützung eines Bauunternehmens, das ein Mayschosser Bewohner kannte und um Hilfe bat, eine asphaltierte Hochwasserhilfsstraße durch den Wald.
Am 20. Juli, sechs Tage nach der Flut, veröffentlichte der Krisenstab sein erstes Infoblatt bezüglich Strom- und Wasserversorgung, Abwasser, Kanalisation, Müllentsorgung, Impfung, Post und Sperrstunde.
Nachdem am 21. Juli die Stromversorgung schon teilweise wiederhergestellt war, wurde intensiv an der Wasserversorgung gearbeitet. Zur Grundversorgung wurde ein 15.000 Liter fassender Tank bestellt. Das DRK brachte 4.000 Liter Trinkwasser. Außerdem standen 40 bis 50.000 Liter Brauchwasser zur Verfügung. Dann wurde ein Leitungssystem über eine neue Trasse gebaut, sodass sich kurzfristig der Hochbehälter befüllen ließ.
Ähnliche Krisenstäbe wie in Mayschoß gab es in Dernau und in Rech. „Die Flut hat Mayschoß, Dernau und Rech zusammengeschweißt“ berichtet Sebastian W. Schmitz über Erfahrungen nach der Flut. Ein halbes Jahr nach der Flutkatastrophe war aus den drei Dörfern eine Gemeinschaft entstanden, die ihre Zukunft nur noch gemeinsam denken und angehen will. Bei der Umsetzung von Projekten wollen sie einvernehmlich, schnell und flexibel reagieren können.
Am 17. Dezember 2021 gründeten die drei Dörfer die Wiederaufbaugesellschaft „Zukunft Mittelahr“ (ZMAhr AöR). Die Gründungsurkunde unterzeichneten die drei Ortsbürgermeister Alfred Sebastian, Hartwig Baltes und Dominik Gieler.
Dominik Gieler, bis 2022 Ortsbürgermeister von Rech und im Januar 2022 zum Ersten Vorsitzenden der Gesellschaft gewählt, sagte: „Die Idee, eine solche Gesellschaft zu gründen, hegten wir bereits seit den Tagen kurz nach der Flut. Die Gründung ist ein Zeichen an unsere Bürgerinnen und Bürger, dass wir unser Tal und unsere Region an der Mittelahr gemeinsam wiederaufbauen wollen.“
Als Anstalt des öffentlichen Rechts soll die Gesellschaft die ehrenamtlichen Ortsbürgermeister:innen und Gemeinderäte entlasten. Gleichzeitig ist sie ein Instrument zur Steuerung von Projekten. Dabei war das dringlichste Ziel, für den Winter 2022/2023 Heizmöglichkeiten und Nahwärmenetze in Form einer schnellstmöglichen zukunftssicheren und nachhaltigen Energieversorgung zu etablieren. Weitere Bereiche der Zusammenarbeit sind Tourismus, Weinbau, Sport, Verkehr, Kindertagesstätten und Senior:innen. Hier entstehen Leuchtturmprojekte, die zukunftsweisend sind.
Für die Vorstandsämter wurde jeweils eine Vertretung aus den drei Orten bestellt. Diese Ämter haben heute Martin Schell für Dernau, Niki Kozisek für Rech und Sebastian Sonntag für Mayschoß, der seit Beginn im Krisenstab unterstützte, inne. „Nach der Chaosphase in den Orten haben wir nun mit der ZMAhr die Möglichkeit, den Wiederaufbau gemeinsam und strukturiert anzugehen und die Grundlagen für unsere Zukunft zu schaffen“, begründete Sonntag sein Engagement und das seiner Mitstreitenden, die vor den Hürden und Hindernissen, auf die sie beim Wiederaufbau ihrer Orte stoßen, nicht zurückschrecken.