Die Flut und der Gottesglaube

Annette Holzapfel
Januar 2023

„Lieber Gott im Himmel“ flehte eine Frau immer wieder mit herzzerreißenden Schreien, während Wassermassen in ihr Haus eindrangen. Manche fragten sich in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 angesichts des Ausmaßes der Zerstörung durch die Flut, wo Gott in jener Nacht war. Die Naturkatastrophe erschütterte den Glauben, beflügelte Zweifel und warf die Frage auf, wie Gott so etwas zulassen konnte. Manche sahen in dem Ereignis „das Ende der Welt“. Sechs Tage nach der Flut fanden sich zwei Freundinnen wieder. Die eine hatte sich in ihrem von der Außenwelt abgeschnittenen Dorf auf den Weg gemacht und war viele Stunden lang zu Fuß über die Weinberge ins Dorf der anderen gegangen. Jene reinigte gerade Heiligenbilder, die die Flut überstanden hatten. Die eben angekommene Freundin, die ihr Leben lang sehr gläubig gewesen war, drehte alle Bilder um, mit den Gesichtern der Heiligen nach hinten. Wütend sagte sie: „Ich kann sie nicht ansehen. Es ist vorbei mit dem Glauben.“

Gleichzeitig gab es Menschen, die in der Flutnacht Gottes Nähe und seinen Beistand zu spüren glaubten, weil sie überlebten oder gerettet wurden. Eine Frau, die alles verlor und elf Stunden bis zu ihrer Rettung ausharrte, fühlte sich „von Gott beschenkt“, weil sie überlebt hatte. „Du kannst nicht mehr zurück“, sagte eine Betroffene sich, weil das Wasser alles mitgerissen hatte, was sie besaß, war sich aber dessen gewiss, dass Gott ihr Kraft gegeben hatte, um damit fertigzuwerden und ihr Heim wiederaufzubauen. Eines Tages schimpfte sie mit Gott, als ein heftiger Sturm aufkam: „Die Flut ist doch genug gewesen“, warf sie ihm vor; da legte der Sturm sich und sie entschuldigte sich bei Gott. Dechant Jörg Meyrer berichtet von Menschen, die in der Flutnacht die Taufkerzen ihrer Kinder anzündeten oder eine Marienfigur auf die letzte Treppenstufe des Obergeschosses stellten, vor der das Wasser schließlich Halt machte. Wieder andere zeigten mit Tränen in den Augen Kreuze, die trocken geblieben waren. In einem der am stärksten zerstörten Orte hatte sich am Ende einer Gasse ein Stromkabel zu einem Kreuz geformt; darin sah ein Anwohner ein Zeichen: Gott habe „seine Hand darüber gehalten: bis hierher und nicht weiter.“ Auch anderswo glaubten die Menschen göttliche Zeichen zu entdecken. In der Walporzheimer Kapelle blieb das Wasser unterhalb des Altarkreuzes stehen, denn „der Heiland wollte keine nassen Füße bekommen“. An einem Kreuz an der Ahrweiler Laurentiuskirche stieg es nur bis zu Christi Füßen. In der Hönninger Hubertuskapelle machte das Wasser vor der Deckenbemalung halt.

„Ich glaube, dass Gott da war, auch bei denen, deren Gebet nicht erhört wurde und die ertranken“, schreibt Dechant Meyrer in seinem Buch „Zusammenhalten“. Dass Gott das Übel nicht von den Menschen wegnimmt, sondern mittendrin ist und das Leben mit den Menschen teilt, hat der Priester schon immer geglaubt; die Flutkatastrophe hat ihn darin bestärkt.

Bild: Iris Hoffmann

Seelsorgende unterschiedlicher Glaubensrichtungen, 100 Seelsorgende aus dem Bistum Trier ebenso wie Protestanten, Angehörige verschiedener Freikirchen oder Zeugen Jehovas waren seit dem ersten Tag, und sind teilweise 2024 noch immer im Ahrtal aktiv. Zwei katholische Priester machten sich unmittelbar nach der Katastrophe als Helfende auf. Einige Kirchen, Pfarrhäuser und Pfarrheime dienten nach der Flut als Materiallager, Stützpunkte für Essensausgaben, vorübergehende Arztpraxen, zur Kinderbetreuung, Wintertreffpunkte oder Wohnungen für Obdachlose. Das Pfarrhaus in Heppingen wurde zum Studio des Ahrtalradios. In vielen Orten verwandelten ehrenamtliche Laien Kirchen oder Kapellen in Zufluchtsstätten, Herbergen oder Spendenlager, in Treffpunkte für Gespräche, zum Kaffeetrinken, für Andachten und Gebete. Betroffene konnten dort ihre Erlebnisse erzählen, ihre Sorgen abladen, beten und zur Ruhe kommen.

Den Seelsorgenden gelang es unterschiedlich gut, auf die Nöte der Menschen einzugehen, ihr Vertrauen zu gewinnen, ihnen zu helfen, Verluste oder den Tod von Angehörigen besser zu verkraften. Einige von ihnen waren selbst Betroffene. Innerhalb der Bevölkerung wurden sie ganz unterschiedlich wahrgenommen oder sie wurden gar nicht wahrgenommen, weshalb es auch Betroffene gibt, die „Wo war die Kirche?“ fragten.

Mitglieder der mennonitischen Gemeinde Neuwied gehörten zu den ersten, die neben freiwilligen Helfenden die Bevölkerung in Walporzheim in einem Versorgungszelt verpflegten. Jeden Tag gaben sie mehrere hundert Mahlzeiten aus. Sie schnippelten und kochten in zwei Schichten, in den ersten Wochen spülten sie das ganze Geschirr von Hand. Für die Betroffenen in Walporzheim war offensichtlich, dass sie ebenso wie die Zeugen Jehovas und das „Haus der Hoffnung“ nicht anreisten, um zu missionieren, sondern einzig und allein aus Nächstenliebe und um den Menschen zu helfen.

Hilfsbereitschaft und SolidAHRität machten keinen Unterschied zwischen Menschen verschiedenen Glaubens, auch nicht zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Die Engel, die ins Ahrtal kamen, hatten keine Flügel, sondern trugen Gummistiefel.

Bild: Frank Thelen

Nachdem die Flut Gotteshäuser, Kapellen, Kindergärten und andere kirchliche Gebäude zerstörte, ist nicht überall ein Wiederaufbau geplant. Die Kindergärten Sankt Pius, Blandine-Merten-Haus und Sankt Mauritius in Bad Neuenahr-Ahrweiler sowie St. Johannes in Dernau wurden abgerissen, um danach völlig neu aufgebaut zu werden. Dem Pfarrheim und dem Pfarrhaus von Sankt Pius in Ahrweiler droht der Abriss. Die Kirchen St. Laurentius in Ahrweiler sowie die Rosenkranzkirche und die Martin Luther Kirche in Bad Neuenahr wurden schwer geschädigt. Eine Wiederherstellung der drei Kirchen ist geplant. Die mittlerweile profanierte katholische Kirche Sankt Andreas mit Unterkirche und Pfarrhaus in Ahrbrück werden abgerissen. Kirchen sind mit vielen Erinnerungen verbunden, deshalb treffen solche Entscheidungen die Gläubigen hart. Sowohl in Ahrbrück als auch bei Sankt Pius stehen nicht nur die Beseitigung von Flutschäden an, sondern auch weitere umfangreiche Maßnahmen. In diesem Kontext stellt sich die Kirche die Frage, welche Gotteshäuser in Zukunft gebraucht werden sowie wie und von wem sie finanziert oder anderweitig genutzt werden können. In Ahrbrück hatte sich eine Gruppe gebildet, die sich für den Erhalt der Kirche einsetzte. Auf einem Banner hatten die Mitglieder dargestellt, was dem Ort durch den Abriss verloren gehen würde. Seit Ende 2022 hing dieses Banner mit dem Ergebnis am Eingang der Kirche.

Bei betroffenen Kapellen fallen Lösungen leichter. Weil sie kleiner sind, können Vereine sich um den Wiederaufbau kümmern. In Walporzheim, Mayschoß, Reimerzhoven und Hönningen nahm die Bevölkerung mit Unterstützung ehrenamtlicher Restauratoren und der Deutschen Stiftung Denkmalschutz die Wiederinstandsetzung selbst in die Hand.

Bild: Annemie Ulrich