Die Flut verschob auch (Gemeinde-) Grenzen

Anton Simons
2023

Anton Simons sprach mit Rolf Schmitt, dem „Kümmerer“ von Marienthal:

Viele tausend Tonnen Lehm hat die Ahr-Flut vom Juli 2021 mit sich genommen und weiter flussabwärts oder im Rhein wieder abgelagert. Aber nur in Marienthal verschob sie dauerhaft eine Gemeindegrenze. Im März 2022 stimmten die Einwohnerinnen und Einwohner mit großer Mehrheit dafür, dass der bislang zweigeteilte Weinort vereinigt wird. Sein westlicher Teil gehörte jahrhundertelang zu Dernau und zur Verbandsgemeinde Altenahr, sein östlicher Teil hingegen zu Walporzheim und zur Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler. Nun sollte die Ortsgemeinde geeint ein Teil der Gemeinde Dernau werden.

Die jahrhundertelange Teilung hatte historische Gründe: Westlich des Hubachs herrschten einst die Saffenburger und Arenberger Herren, östlich das kurkölnische Ahrweiler. Der kleine Bach verlor mit der kommunalen Neugliederung zwischen Walporzheim und Dernau die Funktion eines Grenzgewässers.

77 Wahlberechtigte stimmten für den Anschluss an Dernau, nur 5 Marienthaler:innen für den Erhalt des Status quo. Wie das oberhalb an der Ahr gelegene Kreuzberg, das ein Ortsteil der Ortsgemeinde Altenahr ist, sollte Marienthal ein Ortsteil der Gemeinde Dernau werden. Es sollte aber einen eigenen Ortsbeirat und einen eigenen Ortsvorsteher erhalten. Der in die Entscheidungsfindung eingebundene Gemeinderat von Dernau beschloss kurze Zeit später, Marienthal ins eigene Gemeindegebiet aufzunehmen. Nun mussten noch die Räte der Verbandsgemeinde Altenahr, die um einige Hektar wachsen sollte, und der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler, die entsprechend schrumpfen sollte, abstimmen.

Bild: Rolf Schmitt

Einen eigenen Haushalt bekommt Marienthal nicht, da Ortsbeiräte und Ortsvorsteher:innen laut rheinland-pfälzischer Kommunalordnung keine Etats verwalten. Die Haushalte sind hier Sache der Verwaltungen und Räte der verbandsfreien Städte und Verbandsgemeinden.In der Vergangenheit war über eine Zusammenlegung der beiden Ortshälften immer mal wieder diskutiert worden. Aber erst nach der Flut machte die Kommunalpolitik Nägel mit Köpfen. „Nach der Katastrophe war allen Beteiligten klar geworden, welch hohen Organisationsaufwand die Verwaltung eines so kleinen Ortes durch zwei Kommunen erfordert“, berichtete Christine Schulze im General-Anzeiger vom 9. März 2022.

Einige alltagspraktische Argumente sprachen für eine Neustrukturierung. Fast schon kurios: Marienthal hatte zwei unterschiedliche Ortseingangsschilder. Wer aus Richtung Bad Neuenahr-Ahrweiler kam, konnte „Marienthal – Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler“ lesen. Wer aus Richtung Oberes Ahrtal kam, las hingegen „Marienthal – Gemeinde Dernau“. Ebenfalls befremdlich: Die Ortsteile hatten zwei unterschiedliche Postleitzahlen. Außerdem hieß die Hauptdurchgangsstraße B 267 in ihrem östlichen Teil "Marienthaler Straße", in ihrem westlichen Teil dann „Rotweinstraße“. Für Paketboten war der Ort auch aufgrund doppelt vergebener Hausnummern eine echte Herausforderung.

Für die Straßenreinigung bedeutet der Zusammenschluss ebenfalls eine Änderung. Nun müssen die Anliegerinnen und Anlieger in ganz Marienthal selbst kehren. Bislang erledigte eine Kehrmaschine im zu Bad Neuenahr-Ahrweiler gehörenden Dorfteil diese Aufgabe.

Für die Energieversorgung ändert sich auch alles: Der Dernauer Teil wurde von Westnetz mit Strom versorgt, der Bad Neuenahr-Ahrweiler Teil hingegen von den Ahrtal-Werken. Westnetz kündigte an, seine Strom- und Straßenbeleuchtungskabel im Zusammenhang mit dem Bau des zentralen Nahwärmenetzes mit in die aufgerissenen Straßen und Gehwege zu legen. Die Ahrtalwerke planten, an den Dachständern festzuhalten. Durch die Vereinigung hat nun ganz Marienthal resiliente Erdkabel.

Bild: Rolf Schmitt

Frank Bugge berichtet in seinem Rhein-Zeitungs-Artikel vom 20. März 2022 von „…ein[em] emotionale[n] Moment, der zum Wunsch nach Einheit geführt hat: Bei der Bewältigung der Flutkatastrophe habe sich „erstmals eine Dorfgemeinschaft gefunden, die sich selbst organisiert hat – weil sie sich selbst in der Not und ohne Hilfe von außen organisieren musste.“

Die Flut stieß in Marienthal weitere Entwicklungen an: Zur Organisation des Wiederaufbaus schloss sich die Dorfgemeinschaft im Verein „Hochwasserhilfe Marienthal“ zusammen. Die Inbetriebnahme der Heizzentrale am 2. November 2022 stellt eine hochwassersichere und klimafreundliche Wärme- sowie Warmwasserversorgung von 32 Häusern sicher. Außerdem wurden Ideen zur Neugestaltung der Dorfmitte konzipiert. Der Bau eines über Zuschüsse aus der Dorferneuerung und Spenden finanzierten „Freundschaftshauses“ auf der Fläche des ehemaligen Hotel-Restaurants „Klosterquelle“ gibt den Dorfbewohner:innen nun einen Raum für gemeinsame Feste, kulturelle Veranstaltungen oder Familienfeiern.
In der Rückschau verwundert es fast ein wenig, dass es bis zum Zusammenschluss der beiden Dorfteile und deren gemeinsamer Integration in die Gemeinde Dernau keine demokratische Vertretung der Einwohnenden gab - keinen Rat und keinen Beirat und keinen Ortsvorsteher.

Bild: Rolf Schmitt