Der Verlauf der Flutkatastrophe
Erlebnisbericht A. Simons / D. Schmitten
Insul
Dezember 2022
Anton Simons
Doris Schmitten aus Insul berichtet:
Hochwasser war angekündigt. Alle in Insul dachten: „Es wird sicher wieder eins, wie es in Insul jeder kennt und wie es alle paar Jahre kommt, zuletzt 2016.“ Die Seniorinnen und Senioren trafen sich planmäßig am Nachmittag des 14. Juli im Landgasthaus Ewerts zum gemeinsamen Kaffeetrinken, Kuchenessen und sozialem Austausch. Plötzlich stieg die Ahr in ungekanntem Tempo an. Bis 17.30 Uhr war das Flüsschen, das normalerweise in gehörigem Abstand zum Gasthaus ruhig dem Rhein entgegenfließt, bedrohlich nahegekommen, seine Fließgeschwindigkeit hatte sich enorm erhöht. Der wenige Meter oberhalb am Gasthaus vorbeifließende Welsbach, normalerweise ein kaum wahrnehmbares Rinnsal, war ebenfalls weit über seine Ufer getreten. Um 18 Uhr gelang es gerade noch, die Senioren aus der Überflutungszone heraus zu evakuieren. Telefonieren war zu dieser Zeit, als die ersten entlang der Ahr stehenden Bäume vom Wasser weggerissen wurden, nicht mehr möglich. Kurz nach der Evakuierung stand das Landhotel bis unter die Erdgeschoss-Decke im Wasser.
Insul gehörte zu den am stärksten betroffenen Orten im Oberen Ahrtal.
120 Haushalte waren hier betroffenen. Zwei Esel, sieben Schafe und eine Katze starben. Dorfbewohner waren nicht unter den Todesopfern, mussten aber stundenlang um ihr Leben fürchten und entgingen nur knapp dem Tod. So verloren der Maler und Lackierer Jürgen Hoppe, Lebensgefährtin Svenja und Sohn Piet fast ihr Leben. In Günther Jauchs Jahresrückblick vom 5. Dezember 2021 erzählte er vor 13,3 Millionen Zuschauern live seine Geschichte. Das Wohnhaus seines Nachbarn Oliver Grieß, in dem sich die Nachbarsfamilien aufhielten, hielt dem Wasserdruck nicht mehr stand und wurde mitgerissen. Jürgen Hoppe und seiner Familie sowie der Lebensgefährtin von Oliver Grieß gelang in letzter Sekunde die Flucht aus dem Dachboden über einen Schrank ins Nachbarhaus. Oliver Grieß befand sich jedoch noch im Haus, als es einstürzte. Er selbst wäre fast ertrunken, konnte sich aber auf eine Erhebung, auf der ein Baum wuchs, retten. Mehrere Stunden harrte er hier an den Baum geklammert im Bademantel aus, bevor er von einem Hubschrauber gerettet werden konnte.
Wie wild geworden schlug die Ahr eine 900 Meter breite Schneise der Verwüstung durch das 450-Einwohner-Dorf. Aus der Vogelperspektive sah es so aus, als hätte die Ahr, die in den Jahrzehnten zuvor in ein immer engeres Korsett gezwängt wurde, zornig einen Befreiungsschlag vorgenommen, weil sie sich wieder Platz und Respekt verschaffen wollte. Fluss und Ort waren danach kaum wiederzuerkennen. Das Flussbett der Ahr war viel breiter und ihre Ufer, die zuvor steil abfielen sahen wie abgeschliffen aus. Sogar Inseln hatten sich gebildet. Eine davon hatte sich auf Höhe der nun zerstörten, 1910 errichteten Bogenbrücke geformt. 100 Meter lang, ragte an ihrer flussaufwärts Richtung Prümer Tor gelegenen Spitze wie eine Galionsfigur ein mächtiger Baum empor, der stehengeblieben war. Die rechts und links des ehemaligen Flussbetts gepflanzten Bäume waren hingegen nahezu ausnahmslos umgerissen worden.
Gemeinde am Fluss
Die zur Verbandsgemeinde Adenau gehörende Gemeinde Insul erstreckt sich über fünf Quadratkilometer zwischen Dümpelfeld und Schuld zu beiden Seiten der Ahr. Auf gut zwei Kilometern Länge wird das Dorf von der Ahr durchflossen. Und auf einem Kilometer – zwischen dem Friedhof, der am Fuß des kleinen Hügels liegt, auf dem einst die Insuler Burg stand, und der Hahnensteiner Mühle - ist das Tal bebaut. Wobei die Bebauung auf einer Länge von 600 Metern zwischen Alter Hofstraße und Sportplatz bis dicht an die Ahr heran reicht. Die Ortslage von Insul beginnt dabei 600 Meter unterhalb der Grenze zur Nachbargemeinde Schuld, die bei dem Hochwasser ebenfalls schwere Schäden erlitt. Die unterhalb des Dorfes stehende Hahnensteiner Mühle ist zwar nur gut 100 Meter von den letzten Insuler Häusern entfernt, gehört aber bereits zur Nachbargemeinde Dümpelfeld. Dabei stehen die ersten Häuser von Dümpelfeld immerhin mehr als einen halben Kilometer von ihr entfernt.
Historische Bausubstanz
Die Schäden, die die Flut zu beiden Seiten der Ahr in Insul angerichtet hat, waren verheerend. Nur wenige Häuser wurden verschont. Zwei Wohngebäude am linken Ahrufer, im Überdorf, wie der nördliche Teil von Insul genannt wird, riss die Flut mit sich. Lediglich die Bodenplatten blieben übrig. Das Überleben ihrer Bewohner gleicht einem Wunder. In den Wochen nach der Katastrophe wurden sechs weitere Häuser abgerissen, die schwer beschädigt, einsturzgefährdet oder stark mit Heizöl belastet waren, sodass eine Sanierung als unmöglich oder nicht wirtschaftlich eingeschätzt wurde.
Bei Touristen ist Insul vor allem wegen seiner ortsbildprägenden, gepflegten und sensibel sanierten historischen Häuser und Hofanlagen beliebt. Einige von ihnen, das von 1776 stammende Jochse-Haus zum Beispiel, ebenso wie der prächtige Zehnthof als ältestes Haus des Dorfes, stehen nur wenige Meter von der Ahr entfernt. Sie haben schon die Flut von 1804 überstanden, die bis zum 14. Juli 2021 als schwerstes Ahr-Hochwasser galt.
Auch 2021 setzte die Flut den historischen Bauten zu, drang unter Türen hindurch und durch Fensterritzen ins Innere, riss an Außen- und Innenwänden Gefache auf, nahm Stroh und Lehm mit. Aber die Balkengerüste hielten auch diesmal stand, obwohl das Wasser noch um einiges höher stieg als vor 217 Jahren. Einmal mehr zeigte sich, dass Fachwerkhäuser mehr wegstecken können als man ihnen gemeinhin zutraut.
Überflutete Straßen
Die in einem Abstand von 60 Metern parallel zur Ahr verlaufende Ahrstraße wurde ebenfalls stark überflutet. Das galt auch für die gesamte Länge der zum Fluss hinführenden Brückenstraße. „Tagelang haben sie die Straße freigeschaufelt, tagelang Schutt weggeräumt“, berichtete die Süddeutsche Zeitung am 2. September 2021. Die Erdgeschosse entlang des etwas weiter von der Ahr entfernten Burg- und des Zehntpöschwegs, die bis auf 100 Meter an die Ahr heranreichen, wurden ebenfalls geflutet. Aber auch etliche Häuser, die östlich des Landgasthauses Keuler entlang der Hauptstraße (L73) und damit noch weiter von der Ahr entfernt stehen, hatten nasse Keller. Die Keller vieler noch weiter südlich am Fuß des Talhangs stehender Häuser waren ebenfalls betroffen. Hier war es nicht die Ahr, sondern der Pitscheider Bach und der Wels- oder Lückenbach, die von den Höhen um Reifferscheid hinabschossen und in Gebäude eindrangen.
Die Hauptstraße stand nicht in voller Länge unter Wasser, sondern erst unterhalb des aus dem 17. Jahrhundert stammenden Pittesch-Pitte-Hauses und des Gasthauses Keuler.
Schweissberg und Überdorf
Die schwersten Schäden waren unterhalb des Schweissbergs auf der Nordseite der Ahr, im „Überdorf“, zu verzeichnen. Nicht nur Wohnhäuser wurden hier zerstört, sondern auch der unterhalb gelegene Sportplatz samt Umkleidegebäude. Anders als auf der Südseite des Tales floss vom Schweissberg kein Bach in Richtung Ahr. Weil in den vorherigen Wochen aber auf der Höhe rund um Sierscheid riesige Niederschlagsmengen herabgeregnet waren, konnte das Wasser nicht mehr versickern. Es bildeten sich reißende Bäche, die durch mehrere Häuser am Nordrand von Insul rauschten.
Unmittelbar nach der Flut floss die Ahr fast direkt am Firmengebäude Simshäuser vorbei, das fast 100 Meter vom Ufer entfernt steht. Der Uferstreifen vor der Firma existierte nicht mehr.
Die Namenlose
Die gegen 20 Uhr zerstörte Bogenbrücke, die den historischen Ortskern und das Überdorf miteinander verband, war namenlos. Das konnte sie sich leisten, weil sie Insuls einzige Ahr-Brücke und zugleich ein Ortswahrzeichen war. In ihrer Mitte hing eine gusseiserne Tafel, die an ihre beim Jahrhunderthochwasser 1910 zertrümmerte Vorgängerin erinnerte. Aus Beton gebaut und mit Bruchstein verklinkert, hielt sie dem Wasserdruck nicht stand und brach zusammen, nachdem die Strömung die Brückenfundamente beschädigt hatte. Auch der direkt danebenliegende Kinderspielplatz wurde völlig verwüstet. Die Filialkirche „St. Rochus und Sebastian“, ein weiteres Insuler Wahrzeichen, hatte Glück: Zwei Zentimeter unter der Eingangstür blieb das Wasser stehen.
Die nach Sierscheid hinaufführende Straße hatten spontan entstandene Sturzbäche mit riesigen Geröllmassen blockiert, weshalb sie für Fahrzeuge zunächst unpassierbar war. Deshalb war das Überdorf danach mehrere Tage lang von Hilfe abgeschnitten. Fürs Räumen und Transportieren standen hier anfangs lediglich zwei Traktoren zur Verfügung, die die Flut überstanden hatten.
Ende Juli stellte die Bundeswehr unterhalb der Brücken-Überreste eine fast 40 Meter lange, faltbare Panzerschnellbrücke auf – die erste provisorische Flussquerung im Ahrtal. Zuvor waren Panzer durch die Ahr gefahren, um von Ufer zu Ufer zu gelangen. Immerhin war die Klappbrücke auch für Schwerlastverkehr geeignet; Geländer hatte sie allerdings nicht. Später wurde sie vom THW durch eine Behelfsbrücke ersetzt, die mehrere Jahre stehen bleiben soll, bis die Brücke neu gebaut wird. Die neue Brücke soll strömungstechnisch günstiger konstruiert werden und mehr Spannweite sowie höhere Rampen bekommen, um hochwasserresilienter zu sein.
Alte Schule
In der ehemaligen zum Gemeindehaus umgebauten Schule stand nur im Keller Wasser. In den Wochen und Monaten nach der Flut bildeten Gebäude und Außengelände das Fluthilfezentrum von Insul.
Hilfe
Die externe Hilfe, die Insul in den Tagen, Wochen und Monaten nach der Flut erhielt, war überwältigend. Die Freiwillige Feuerwehr aus Dümpelfeld war schon am Fluttag an der bereits vom Wasser eingeschlossenen Hahnensteiner Mühle zur Stelle. Die ersten Helfer kamen unter schwierigsten Umständen aus den umliegenden Dörfern nach Insul. Es folgten Garten- und Landschaftsbauunternehmen sowie andere Baufirmen. Das THW sicherte und entsorgte die Heizungen und Tanks, die in Kellern aufgeschwemmt oder in Gärten angespült worden waren und verhinderte ein größeres Auslaufen von Heizöl oder Entweichen von Gas. Das DRK leistete Erste Hilfe. Doris Schmitten stand an der alten Schule für Anliegen aller Art als Ansprechpartnerin zur Verfügung. Wenn Kleidung, Schuhe oder Feldbetten fehlten oder Fahrten arrangiert werden mussten, hatte sie eine Lösung.
Strom und Wasser gab es in der ersten Woche im ganzen Dorf nicht, weil die Versorgungsleitungen beschädigt oder zerstört worden waren. Deshalb wurden Stromgeneratoren und IBC-Wassertanks vom Katastrophenstab am Nürburgring zur Verfügung gestellt. Von der zweiten Woche an hatte die Hälfte des Dorfes wieder Strom. Ab der dritten Woche wurde eine Not-Stromleitung von Dümpelfeld aus nach Insul verlegt.
Verlorenes Naturschwimmbad
Ein künstlich angelegtes Schwimmbad brauchte Insul früher nicht. Oberhalb des Ortskerns, in Höhe des Neubaugebiets, existierte eine zwischen üppigem Uferbewuchs, der über der Ahr ein Dach bildete, verborgene Badestelle. Selbst im Hochsommer war das Wasser in der Gumpe dort drei Meter tief. Und es gab eine etwa 30 Meter lange natürliche Bahn, in der man schwimmen konnte, ohne mit den Füßen den Ahrgrund zu berühren. Generationen von Kindern aus Insul und den Nachbarorten im Tal und auf den Höhen haben hier das Schwimmen gelernt. Seit der Flut ist dies Geschichte. Vom kleinen Naturschwimmbad im Fluss, das wahrscheinlich beim Bau der Ahrtalbahn entstanden war, ist nichts mehr übrig.