Der Verlauf der Flutkatastrophe
Erlebnisbericht E. Mittag
Rech
27. Juli 2021
Elfriede Mittag
Elfriede Mittag schrieb diesen Text wenige Wochen nach der Flut:
Alles schien so sicher, so selbstverständlich und nicht der Rede wert: die persönliche Grundversorgung mit Wohnung, Lebensmitteln, Heizung, Kleidung, medizinischer Dienstleistung, Bildung, Kultur usw.; die staatliche Infrastruktur mit Strom, Wasser, Straßen, Bahn und Bus, Post, Internet, Schulen, Kureinrichtungen usw. Und im Wesentlichen beherrschbar erschienen auch die Naturereignisse. Wir leben schließlich in einem zivilisierten, hochtechnisierten, reichen Land.
Seit der Nacht von Mittwoch, den 14., auf Donnerstag, den 15. Juli 2021, als eine unvorstellbare Flutwelle die Ahr herunterschoss, lebten wir alle hier am Existenzminimum, ohne Strom, ohne fließendes Wasser, ohne Abwasser, ohne Internet, Mobilfunknetz oder Telefon, ohne eine Straße in die Zivilisation, und viele ohne Dach überm Kopf.
Fast zwei Tage lang goss es ununterbrochen gewaltige 200 Liter pro Quadratmeter, sonst die Menge eines Vierteljahres, auf die gesamte Ahrregion. Das schwere Wolkenband von Tief Bernd rührte sich kaum vom Fleck.
Es war vor Starkregen und Überschwemmungen gewarnt worden; das kannten die Menschen an der Ahr schon und trafen die üblichen Vorkehrungen.
Aber niemand, weder Fachleute noch Behörden, konnte sich offensichtlich vorstellen, was nun kommen sollte - oder sie haben ihr Wissen nicht deutlich als extreme Katastrophe gekennzeichnet an die Bürger weitergegeben, und schon gar nicht rechtzeitig Evakuierungen veranlasst. War das vielleicht einzige vergleichbare, mächtige Hochwasser vom 21. Juli 1804 dem kollektiven Gedächtnis entfallen?
Ganz plötzlich raste bei einbrechender Nacht eine riesige Flutwelle, am Pegel Altenahr zuletzt fast 6, geschätzt kurz darauf bis zu 10 Meter hoch, die Ahr hinunter. Sie nahm Häuser mit, zertrümmerte Brücken, ließ mehrere Kilometer Straße samt Strom-, Wasser-, Abwasser- und Telefonleitungen mitgehen, dazu die Tankstellen, Mobilfunkmasten und Bahngleise. Sie tötete weit über hundert Menschen, verletzte viele, und etliche werden noch vermisst. Das malerische Ahrtal mit seinen steilen Weinbergen, den schmucken Siedlungen, den Burgen und Klöstern (von Gottfried Kinkel in seinem Buch „Die Ahr“ schon 1849 begeistert beschrieben), den Mineralquellen und Kurhäusern, den urigen Weinkellern und Winzerhöfen, weithin bekannten Restaurants und einzigartigen lokalen Museen wie beispielsweise die Römervilla am Silberberg, besonders das mittlere Tal von Schuld über Altenburg, Altenahr, Mayschoß, Rech, Dernau, Walporzheim, Ahrweiler bis Bad Neuenahr, ist großflächig vernichtet.
Rech hat seinen Dorfkern verloren. Nepomuk, der Schutzheilige der Brücke, ist in der Flut versunken. „Vor böser Zunge und Wassergefahr / St. Nepomuk uns immer bewahr“ kann man noch auf dem Sockel lesen. Jahrhunderte lang hat diese Brücke als einzige an der Ahr alle Hochwasser gut überstanden. Jetzt stehen nur noch drei Bögen in der Mitte eines großen Sees, schwer beladen mit mitgerissenen Baumstämmen, Autos, Häuserresten, Wohnungsinventar, Heizöltanks, Wohnwagen von den Campingplätzen. Tagelang sieht man noch Weinfässer flussabwärts treiben. Obwohl die große Flutwelle sich in Rech über ein weites Feld ausbreiten konnte, behielt sie ihre Wucht und raste um die verstopfte Brücke herum die Dorfstraße hinauf. Die Kirche und die ehemalige Schule wurden geflutet, aber sie stehen noch. Dazwischen sieht man leere Grundstücke–- die Häuser sind spurlos verschwunden; ein neu eingedecktes Satteldach liegt, ohne Baukörper darunter, über einer Straße. Wie viele Gebäude einsturzgefährdet sind, auch Häuser weiter oben am Hang, die möglicherweise stark unterspült wurden von den Wassermassen, die vom Nollberg und den Rebhängen herabströmten, wird noch geprüft werden müssen.
Als der Regen nachlässt, wird es sommerlich warm. Gut für das große Räumen, schlecht für den öl- und fäkalienverseuchten Schlamm. Der bedeckt die Straßen, hat sich hüfthoch in den Kellern und unteren Wohngeschossen abgelagert und stinkt atemberaubend nach Benzin und Heizöl. Die Menschen packen an, alle helfen, man grüßt jeden und duzt sich. Jede Schaufel wird genutzt, um den Schlamm aus den Häusern herauszuschaffen. Schließlich gehen Polizei und freiwillige Feuerwehr von Haus zu Haus und fragen nach dringendem Bedarf.
Irgendwann dröhnen die Hubschrauber über uns. An langen Leinen hängen jetzt nicht mehr von Dächern und Bäumen gerettete Menschen, sondern riesige Pakete mit der Grundversorgung: Trinkwasser, Lebensmittel, dann auch Gulaschkanonen für die Essensausgabe zur Mittagszeit. Eine Woche lang leben wir von der Notversorgung aus der Luft.
Jetzt kann ich wieder durchschlafen, denn der Nollbach, sonst ein sanft plätschernder Bach, donnert nicht mehr unterhalb unseres Hauses der Ahr entgegen. Noch verschlafen will ich am Morgen zur Toilette gehen und bin gleich wieder in der Gegenwart. Ich ziehe feste Schuhe an und gehe den sonst wenig benutzten Pfad hinter dem Haus den Hang hinauf zum provisorischen Abtritt. Zurück im Bad wasche ich mir mit etwas Regenwasser das Gesicht, denn aus dem Hahn kommt kein Tropfen. Jetzt hätte ich so gern einen heißen Tee oder Kaffee, aber Strom gibt es nicht und so werde ich nach dem alten Campingzubehör suchen müssen. Jetzt im Sommer bleibt es zum Glück lange hell, aber dann setzt die Dämmerung ein und wir stellen einige Kerzen auf. Wie letzte Weihnachten. Aber der Raum wirkt weder festlich noch heimelig. Was kann man jetzt noch machen? Lesen geht nicht, fernsehen geht nicht, telefonieren geht nicht, duschen geht nicht, kochen geht nicht, handarbeiten geht nicht, vielleicht noch etwas aufräumen und dann schlafen, soweit die Erschöpfung dies zulässt.
Eine Frau geht mit einem etwa dreijährigen Kind im Arm bei uns vorbei. Kann das Kind nicht laufen? Doch, aber sie habe keine Schühchen. Als die Ortspolizei gestern, wenige Minuten, bevor die Flut kam, sie aufforderte, sich zu Bekannten in höher gelegene Häuser zu retten, habe sie ihr schlafendes Kind aus dem Bettchen gerissen und sei losgelaufen, über die Brücke, der Hund hinterher. Um etwas zur Besinnung zu kommen, wolle sie sich jetzt die Füße vertreten. Was sie dringend brauche? Eigentlich alles, aber erst einmal eine Zahnbürste und eine Leine für den Hund. Schühchen habe ich keine, wohl aber Reisezahnbürsten mit kleinen Zahncremetuben, eine Leine, und auch sonst noch Nützliches, denn mein Haus steht noch. Aber ich ahne schon: jetzt ist es eine wertlose Immobilie.
Brauchwasser haben wir reichlich: zwischen meinem Haus und dem Nachbarhaus, wo mein Sohn mit Familie wohnt, können wir Eimer stellen unter den dicken Wasserstrahl aus einem Rohr, das das Wasser aus einer Drainage bündelt und auf die Straße ergießt. Auch Nachbarn kommen hierher, verrichten ihre Morgenwäsche und putzen die Zähne. Nur Mineralwasser habe ich nicht, weil ich immer Leitungswasser verwendet habe.
Wir suchen auf dem Dachboden und im Schuppen nach der Propangasflasche. Sie ist leer und verrostet. Zwei Fondue-Sets sind brauchbar, und eine Spiritusflasche ist auch da. Jetzt kann ich immerhin etwas Brauchwasser abkochen. Einige volle Einmachgläser und Konserven finde ich auch, Reis und Nudeln ebenfalls.
Die Polizei bringt einen Kasten Mineralwasser vorbei. Ich habe großen Durst. Dann holen wir für uns fünf Personen je einen Teller warme Erbsensuppe von einer Versorgungsstelle im Dorf. In der inzwischen vom Schlamm gereinigten Kirche stapeln sich mittlerweile die ersten privaten Sachspenden aller Art.
Eigentlich gibt es einen Weg über die Berge in einen unbeschädigten Ort mit Anschluss an die Autobahn. Der ausgewaschene Waldweg ist aber mit PKW nicht befahrbar. Die Bundeswehr beginnt den Weg speziell für Laster, Bagger, Traktoren und Jeeps herzurichten. Jetzt kommen zahlreiche private Helfer mit schwerem Räumgerät ins Dorf: Unternehmer, Landwirte, ganze Vereine auch aus entfernteren Gegenden, von der Elbe beispielsweise, wo die Leute das große Hochwasser von 2002 noch nicht vergessen haben. Dann sieht man immer mehr Fahrzeuge der Bundeswehr, des THW, der Feuerwehr und des Roten Kreuzes.
Der Ortsbürgermeister, selbst stark betroffen, versucht die Helfer zu koordinieren, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen, damit baldmöglichst eine Behelfsbrücke den Zugang zur anderen Dorfhälfte und später zu einer Straße ermöglicht. Der Wasserspiegel sinkt, das kleine Fährboot kann wohl bald nicht mehr fahren -– es sei denn, der erneut angekündigte Starkregen hält es flott.
Bald ist eine schwankende Ponton-Brücke für Personen begehbar; auch ein sogar für schwere Raupenfahrzeuge befahrbarer Übergang auf die andere Ahrseite ist nach einer weiteren Woche fertig. Ein Stück Straße wird aufgeschüttet, sodass endlich für Räumfahrzeuge eine Verbindung zu den Mülldeponien und Verbrennungsanlagen in der Umgebung steht. Ein Arzt aus einem Nachbarort bietet eine Sprechstunde in einem Winzergehöft an und eine Corona-Impfung.
Einige Generatoren sind geliefert worden, sodass nun wenigstens eine Lampe und der Kühlschrank in Betrieb genommen werden können. Aber Kühl- und Gefrierschrank sind leer, denn die alten Vorräte waren inzwischen verdorben.
Wie es uns geht? Es gibt so viel zu tun, sodass alle froh sind, das Nachdenken über die Zukunft vorerst hinauszuschieben. Aber nachts quälen dann doch die Fragen nach den noch immer vermissten Angehörigen, nach der verlorenen beruflichen Existenz, nach den möglichen Versicherungsleistungen, nach der zukünftigen Bleibe, hier oder ganz woanders. Ist das Ahrtal überhaupt noch zu retten? Und wenn ja, wie lange wird der Wiederaufbau dauern? Jahre oder gar Jahrzehnte? Sollen wir uns das wirklich antun?
Und was wird aus den Kindern? Das Schuljahr beginnt bald, aber eine Schule oder einen Kindergarten gibt es an der Ahr nicht mehr.
Manche Kinder sind vor Schreck stumm geworden oder drehen durch; andere wiederum scheinen, auf den ersten Blick, mit den Ereignissen und den neuen Gegebenheiten klarzukommen. Nur nachts wachen sie schreiend auf, weil wieder ein Monster auf ihrer Brust saß.
Sicherheitsgefühl und Urvertrauen können aber nur langsam wieder wachsen.
Kaum jemand hat Zeit und Kraft genug, um sie zu trösten. Womit auch? Der Kinderspielplatz ist weggespült, nur ein einsamer Schaukel-Elefant erinnert an das erst kürzlich von der Dorfgemeinschaft verschönerte Spielgelände, und das ganze Überschwemmungsgebiet ist, auch für Kinder wahrnehmbar, durchaus kein Abenteuerspielplatz