Der Verlauf der Flutkatastrophe
Erlebnisbericht V. Kastenholz
Rech
Januar 2023
Verena Kastenholz
Verena Kastenholz, die „Katastrophenfee“ aus Rech berichtet:
Der 14. Juli 2021 war kein Tag wie jeder andere. Seit Tagen hatte es geregnet und es hörte einfach nicht auf. Die Ahr hatte schon gut Wasser und man sah, dass das noch mehr werden würde. Wie viele andere Leute im Dorf ging ich abends gegen halb sechs mit meinen Kindern runter an die Brücke, um „Hochwasser zu gucken“. Das ist in Rech immer so. Daher war es auch nicht verwunderlich, dass sich viele Menschen dort trafen. Die Freiwillige Feuerwehr von Rech war auch vor Ort. Das Wasser stieg und hatte bald den Sportplatz überschwemmt. Viele Bäume und anderes Treibholz blieben an den Brückenpfeilern hängen. Das war aber nicht ungewöhnlich und noch kein Grund zur Besorgnis.
Gegen halb neun ging ich mit meinen Kindern nach Hause. Langsam wurde es dunkel und im ganzen Dorf war der Strom weg. Das bedeutete Abendessen im Kerzenschein. Vom Dorf war nichts mehr zu sehen. Man hörte nur die Ahr rauschen und zwischendurch ein Krachen und Rumpeln. Wir konnten nur erahnen, was passierte.
Am 15. Juli kam dann das böse Erwachen. Überall war Wasser. Ganze Häuser fehlten im Ortsbild, da sie einfach weggerissen worden waren. Die Felder und Weinberge waren überschwemmt und nicht mehr zu sehen. Es gab weder Strom und fließendes Trinkwasser noch Handynetz. Unsere Brücke war zerstört, sodass wir auf unserer Dorfseite von der Außenwelt abgeschnitten waren.
Das Rech, wie es einmal existierte, gab es nicht mehr. Einfach weg, von der Ahr verwüstet, unfassbar, aber wahr. Jeden Tag steht man in der Heimat und hat Heimweh!
Die Familien, die in der Nacht ihre Häuser verloren haben, sind in den Gästezimmern des „Hof Bärenbach“ untergebracht worden. Meine Mutter Barbara Schreier hat die Zimmer sofort zur Verfügung gestellt. Als ich am 15. Juli um sechs Uhr in den elterlichen Betrieb ging, hatte mein Vater Gerhard Schreier schon unseren großen Bundeswehrgasgrill aufgestellt, um Kaffee zu kochen. Gasflaschen und stilles Wasser in Flaschen waren genug vorhanden. So verwandelte sich der sonst so ruhige und gemütliche Winzerhof in die Versorgungsstation auf unserer Dorfseite. Mit Hilfe von außen war aufgrund der zerstörten Brücke erst einmal nicht zu rechnen, wir waren auf uns allein gestellt.
Da das Feuerwehrhaus auch zerstört worden war, verlegte die Feuerwehr ihre Einsatzzentrale in den ersten Tagen auch hierhin. Unser Ortsbürgermeister befand sich auf der anderen Seite des Dorfes, sodass mein Vater als 1. Beigeordneter zusammen mit dem Wehrführer der Recher Feuerwehr die Grundorganisation in diesen Tagen übernahm.
In den Tagen und Wochen nach der Flut ist im Hof Bärenbach sehr viel los gewesen. Es gab den ganzen Tag über Kaffee, heißes Wasser und Informationen. Wir stellten den Grill zur Verfügung, um Essen warm zu machen und kochten Mahlzeiten aus dem, was jeder so vorbeibrachte. Natürlich konnten meine Mutter und ich das nicht allein bewältigen. Zum Glück unterstützen uns einige Frauen aus dem Dorf. Für diese Hilfe waren wir unendlich dankbar, da wir den ganzen Tag im Einsatz waren.
Mein Vater fuhr mit seinem Geländewagen durch den Wald bis nach Niederzissen in die Apotheke, um dringend benötigte Medikamente zu besorgen, denn einige Menschen mussten täglich lebenswichtige Tabletten einnehmen. So waren Medikamente, nach Wasser und Gas, die wichtigsten Dinge, die besorgt werden mussten. Später entwickelte sich auch ein Wäscheservice durch den Wald. Da konnte jeder seine Wäsche in Säcken abgeben, die dann in eine Wäscherei gebracht wurden und nach ein paar Tagen wieder bei uns abgeholt werden konnten. Die Wäscherei bot diesen Service kostenfrei an.
Jeden Tag veränderte sich etwas. Irgendwann lieferten Hubschrauber Hilfsgüter an, die irgendwo gelagert werden mussten. So entstand ein „Laden“ auf dem Hof. Hier konnten sich die Recher kostenfrei mit Wasser, Lebensmitteln und Hygieneartikeln versorgen. Besonders stilles Wasser war essenziell zum Kochen, Waschen und Zähne putzen. Bis wieder Wasser aus der Leitung kam, sollten hier in Rech Süd noch Monate vergehen. Die Bewohnerinnen und Bewohner besuchten den Hof aber nicht nur, um Essen und Getränke zu erhalten, sondern auch, um sich über Neuigkeiten zu informieren, Medikamente zu bestellen, Wäsche abzugeben oder einfach nur, um nicht allein zu Hause zu sitzen. Viele Gespräche wurden geführt. Es wurde gelacht, geweint und gemeinsam gearbeitet. In dieser schwierigen Zeit war der Hof Bärenbach ein „guter“ Ort, der Hoffnung schenkte und an dem man sich zusammensetzten konnte.
Am 17. Juli tauchte auf einmal Dr. Michael Masanneck aus Schalkenbach im Hof Bärenbach auf. Er hatte gehört, dass unsere Dorfseite von allen normalen Wegen abgeschnitten war und sich mit seinem Geländewagen durch den Wald aufgemacht, um zu sehen, wie er helfen konnte. Weil auf unserer Dorfseite keine ärztliche Versorgung gewährleistet war, wurde die Errichtung einer Arztpraxis in unserem Frühstücksraum beschlossen und umgehend eingerichtet, sodass bald täglich gefragt wurde: „Ist der Doktor da?“. Unser Innenhof wurde zum gut besuchten, „schönsten Wartezimmer“ der Welt. Tetanusimpfungen erhielt man bei Bedarf morgens zum Kaffee und an zwei Tagen wurde sogar gegen Covid geimpft. Da der Doktor nicht jeden Tag vor Ort sein konnte, wechselte er sich mit seinem Sohn, Dr. Lars Masanneck ab.
Aber nicht nur Patientenbetreuung stand auf dem Tagesplan, sondern auch die Beratung zum Umgang mit der Hygiene in der aktuellen Lage war wichtig und notwendig. Denn niemand wollte eine Durchfall-Epidemie und eine eventuell damit einhergehende Evakuierung riskieren.
Der Doktor verlieh mir den Titel „Katastrophenfee“, der sich bis heute hält. Meine Mutter wurde zur „Oberfee“ ernannt und unsere Helferinnen zu „Kaffeefeen“ oder „Versorgungsfeen“.
Schnell vergingen die Tage. Jeder Tag war vollgepackt mit Arbeit und Organisation. Man stand so unter Strom, dass man gar nicht merkte, wie die Stunden, Tage und Wochen vorbeigingen. Der Zustrom von Hubschraubern mit Hilfsgütern ließ nicht ab, wodurch es den ganzen Tag im Recher Luftraum ratterte. Irgendwann wurde unser Hof zu klein für die ganzen Sachspenden, sodass wir den „Laden“ in die bereits entschlammte Kirche verlegten. Hier existierten feste Öffnungszeiten und ein Team von Rechern kümmerte sich um das Einsortieren und das Ausgeben der Sachspenden. Der geräumte und entkernte Pfarrsaal neben der Kirche wurde nun als Einsatzzentrale der Feuerwehr sowie als offizieller Infopoint genutzt.
Irgendwann kreuzten die ersten Einsatzkräfte und Helfer auf unserer Dorfseite auf, um uns zu unterstützten. Nun wurden die 2 Dorfteile als Rech Süd und Nord bezeichnet. Wir hatten keine Brücke mehr, dafür aber einen See. Die Bundeswehr brachte Boote mit und richtete hier einen Bootshuttleservice ein, der die Recher wieder miteinander verband. Zum ersten Mal hinüber nach Rech Nord zu fahren, um dort die Menschen zu treffen und zu sehen, was die Ahr auf ihrer Seite angerichtet hatte, war ein aufregender Moment. Auf einer dieser Fahrten hatte ich die Chance, unter den kaputten Pfeiler der Recher Brücke zu fahren. Diesen Anblick werde ich so schnell auch nicht vergessen.
Anfang August übernahm die Bundeswehr die Verpflegung. Frühstück sowie Mittag- und Abendessen wurden in der Feldküche vorbeireitet, aber weiterhin am Hof Bärenbach, der sich als Dorftreffpunkt etabliert hatte, ausgegeben. Das tagtägliche Kaffeekochen für Dorfbewohner, Helfer und Einsatzkräfte übernahmen wir aber weiterhin, da der Bundeswehrkaffee einfach nicht als Kaffee bezeichnet werden konnte. Ganze sechs Wochen hatte dies Bestand. Darüber hinaus befand sich hier der Aushang von Mitteilungen für die Dorfgemeinschaft und einmal wöchentlich gab der Ortsbürgermeister auf einer Bürgerversammlung Informationen weiter und beantwortete Fragen.
Die Tage und Wochen gingen dahin. Ständig veränderte sich etwas. Irgendwann wurde über der Ahr ein schmaler Schwimmsteg aufgebaut, den man nutzen konnte. Das THW brachte große Stromaggregate, die den Ort mit Strom versorgten und überall wurden mobile Dixi-WCs aufgestellt. Auch ein Duschcontainer und ein Container mit Waschmaschinen sowie Trocknern wurde installiert.
Die Bundeswehr baute am Ortseingang Richtung Mayschoß eine Brücke, sodass wir irgendwann auch wieder mit dem Auto Rech Süd verlassen konnten.
Kein fließendes Wasser, wenig Strom, das Dorf nicht verlassen zu können, auf Hilfe von außen angewiesen zu sein, Panzer in Rech, das Dorf zerstört, ein „Laden“ in der Kirche, eine Arztpraxis und Versorgungsstation im Hof Bärenbach - all das waren unfassbare Dinge, die man sich nie hätte träumen lassen und für Monate zum Alltag dazu gehörten.
Die Situation war nicht einfach und eher anstrengend als schön. Wir taten unser Bestes, um unserer Dorfgemeinschaft zu helfen und die zu unterstützen, die wirklich Hilfe brauchten. Sei es durch Essen, Kaffee, Materielles oder nur ein nettes Wort oder eine Umarmung. Natürlich gab es auch mal Tränen oder die ein oder andere kleine Auseinandersetzung, aber wer kann es den Menschen verdenken in dieser Situation?
Meine Eltern und ich würden es jederzeit wieder genauso machen. Wenn man helfen kann, dann hilft man. Für uns und unsere Helfer war das selbstverständlich.