Der Verlauf der Flutkatastrophe
Erlebnisbericht S. Erdem
Sinzig
März 2023
Songül Erdem
"Ich habe immer gebetet, dass niemand etwas Schlimmes sehen muss."
Am Mittwoch, den 14. Juli 2021, veranstalteten wir von „Merida“ unser Sommerfest in der Grillhütte in Bad Bodendorf direkt an der Ahr. Ein fröhliches Beisammensein mit Aufführungen und gemeinsamem Essen – rund 50 Personen waren vor Ort und hatten sich auf das Fest gefreut. Obwohl es stark regnete, wurde fröhlich gefeiert. Kurz vor 17:00 Uhr wurden wir das erste Mal gewarnt, dass der Pegel der Ahr bedenklich steigen würde. Um 18:00 Uhr wurden wir von der Feuerwehr dringend darum gebeten, das Fest abzubrechen, was wir dann auch machten. Bis 20:00 Uhr war ich selbst noch vor Ort, gegen 20:30 Uhr dann mit meinen beiden Töchtern zuhause. Wir waren traurig, dass wir das Fest abbrechen mussten. Aber ich weiß noch, dass ich dachte: „Gott sei Dank, es ist keinem etwas passiert.“ Wir sind dann beruhigt schlafen gegangen.
Am Donnerstag, den 15. Juli 2021 ist mein Mann gegen 4:40 Uhr zur Arbeit nach Neuwied gefahren. Alle Telefonleitungen waren tot und er sah viele Leute mit Koffern, die verwirrt wirkten und Richtung Bahnhof liefen. Dass eine Katastrophe passiert war, kam ihm nicht in den Sinn. Seine Kollegen in Neuwied berichteten dann, dass es eine starke Überschwemmung gegeben habe – wie schlimm, war noch nicht klar. Ich wachte gegen 7:00 Uhr auf und bemerkte sofort einen starken Benzingeruch. Was passiert war, wusste ich aber nicht. Als ich dann zum Dreifaltigkeitsweg in die Schule fuhr begriff ich langsam, dass etwas ganz Schreckliches passiert war.
Mein Sohn rief mich im Laufe des Vormittags aus Bielefeld an: „Mama, es ist etwas Schlimmes passiert.“ Daraufhin bin ich mit meiner Schwägerin nach Neuwied gefahren. Dort haben wir Gaskartuschen zum Kochen sowie Lebensmittel gekauft. Wir haben noch eine Ladung Bettwäsche geholt und sind zum Helenensaal gefahren, der als zentraler Evakuierungssaal eingerichtet wurde. Da „Merida“ viel mit Frauen zusammen kocht, haben wir an erster Stelle an die Essensversorgung gedacht und Suppe für die Betroffenen und Helfer gekocht. Aber wir haben auch Kleider zu Betroffenen gefahren, die in Hotels oder anderen Ersatzunterkünften untergebracht waren.
Am nächsten Morgen bot unser Verein „Merida“ sich offiziell den Stadtverwaltungen von Sinzig und Bad Neuenahr-Ahrweiler sowie der Kreisverwaltung als Hilfspartner an. Von dem Zeitpunkt an waren wir etwa sechs Wochen durchgehend mit unserem Kernteam von rund 70 Vereinsmitgliedern – der ganzen Rheinschiene und Bad Neuenahr-Ahrweiler – vor Ort bei den Flutbetroffenen im Einsatz. Wir haben Essen gekocht sowie verteilt und so täglich bis zu 600 Menschen versorgt. Wir planten unsere Einsätze von Sinzig bis Altenahr. Wir schippten Schlamm, säuberten Schulen und Kirchen. Schnell hatte sich ein Netzwerk von Helfergruppen aus der Region, aber auch aus ganz Deutschland und dem Ausland gefunden. Von den Getränkehändlern wurden wir mit Getränken beliefert. Mit Nick Falkner vom Spenden-Verteilzentrum Ahrtal schlossen wir uns kurz. Wir arbeiteten mit den Aktiven vom Haus der offenen Tür Sinzig und anderen Hilfsorganisationen wie „Time to Help“ zusammen.
Die Sicherheit unserer Helferinnen war mir besonders wichtig. Ich war mir dieser großen Verantwortung bewusst; schließlich hatte ich sie ja „an die Front“ geschickt. Ich habe immer gebetet, dass niemand etwas Schlimmes sehen muss. In Sachen Hygiene haben uns die Apotheken versorgt. Wegen des Schlamms war es wichtig, auch bei der Essenversorgung auf Hygiene zu achten. Als dann die Reichsbürger die Aloisiusschule in Ahrweiler räumen mussten, durften wir bleiben und bekamen ab da ganz offiziell einen Passierschein für die Stadt. Das hat uns ein gutes Gefühl gegeben. Erschreckt haben uns die Berichte von Plünderungen. Zu helfen war für uns einfach ein Zeichen von Menschlichkeit – unsere Mitbürger waren in Not, da war es klar, dass wir als „Merida“ halfen. Uns war egal, welche Nationalität oder welchen Glauben jemand hatte. Wir sind alle Menschen und das Ahrtal gehört uns allen. Die Betroffenen sollten sich nicht allein gelassen fühlen!
Besonders wichtig war uns, bei den Arbeiten in den Schulen und Kindergärten zu helfen. Denn das sind ja nicht einfach nur Gebäude; hier haben die Kinder ein zweites Zuhause, hier treffen sie ihre Freunde. In der Kirche in Altenahr waren wir oft im Einsatz, damit die Menschen wieder eine Möglichkeit hatten, sich zum Gebet zu treffen. Wir haben nicht über die Politik oder die Verwaltung geschimpft, sondern versucht, denen, die schwer betroffen waren, den Rücken freizuhalten. Trotzdem machten wir uns oft Gedanken: „Waren wir gut genug? Wo könnten wir noch helfen?“ Wir dachten: „Wir wurden verschont, damit wir helfen können.“ So haben wir einfach immer weitergemacht. Wir sind zu den Leuten hingegangen, um zu sehen, was sie brauchen. Mir hat der Rückhalt in der Familie sehr geholfen. Meine beiden Töchter haben ihren Urlaub storniert und das Geld der Urlaubskasse an Betroffene gespendet. Mit meinem Mann habe ich die ganze Zeit über Seite an Seite gearbeitet.
Welche Bilder mir besonders im Kopf geblieben sind? Die Wohnwagen, die von den Wassermassen weggespült wurden. Die Grabsteine auf den Friedhöfen, die einfach weg waren, riesige Bäume, die einfach entwurzelt waren, Autos, die wie Spielzeuge weggeschwemmt wurden, Häuser, die weggerissen waren und dazu die ständigen Sirenen von Feuerwehr und THW sowie die anderen Einsatzwagen. Wir kamen uns vor wie im Krieg. In Ahrweiler habe ich meine Kindheit verbracht – nach der Flut habe ich lange gebraucht, bevor ich mich das erste Mal wieder dorthin hingewagt habe.