Der Verlauf der Flutkatastrophe
Erlebnisbericht G. Grosser-Rick / A. Holzapfel
Sinzig
01. Juni 2024
Gesprächsprotokoll von Annette Holzapfel
Gabriele Grosser-Rick aus Sinzig ist Eigentümerin eines Hauses, in dem sie als einzige im Erdgeschoss wohnt, ihre Mieter in den höheren Stockwerken traf die Flut nicht. Sie berichtet:
Am 14. Juli regnete es den ganzen Tag. Um 18 Uhr kam ich nach Hause. Wir hatten bei meiner Schwägerin deren Geburtstag gefeiert. Bei der Ankunft sah ich, dass die Ahr unterhalb der Autobrücke der Kölner Straße schon über die Ufer gelaufen war. Um sieben oder halb acht forderte die Feuerwehr uns auf, Sandsäcke zu holen. Ich fuhr mit Nachbarn zur Burggrafenstraße am Ahrufer. Es hieß, die Flut würde höher steigen als 2016. Sandsäcke waren keine mehr da. Danach habe ich die ganze Zeit lang die Ahr beobachtet. Ein Feuerwehrauto fuhr durch unser Viertel. Die Durchsage war aber unverständlich. Ich sah, wie die Ahr schon über den Sportplatz lief, der sich zwischen meinem Haus und der Ahr befindet. Um 22 Uhr machte die Feuerwehr die Durchsage: „Autos wegfahren … zwei Meter mehr als 2016.“ Das erschien mir nicht beunruhigend. Unterdessen stieg die Ahr weiter und das Wasser lief nun über die Straße vor meinem Haus. Noch machte ich mir keine Sorgen. Um 1.00 Uhr gab es wieder eine Durchsage: „Alles raus … wir evakuieren … raus, raus, raus!“ Wir sollten zu Fuß zum Helenensaal gehen. Ich erwiderte: ‚Mit meinen Tieren kann ich nicht raus.‘ Dann habe ich Freunde angerufen. Es war 1.15 Uhr. Um 1.30 Uhr kamen die Freunde bei mir an. In meiner Straße stand das Wasser inzwischen schon sehr hoch. Meine Freunde kamen mit ihrem Auto so gerade noch durch. Ich hatte meine Handtasche, alle Karten, wichtige Papiere und meinen Laptop schon in der Hand. Wir luden meinen Hund und eine meiner beiden Katzen ins Auto. Meine Freunde wollten die andere Katze suchen. Mir jedoch war klar: wir müssen ohne die Katze weg, sonst kommen wir hier nicht mehr raus und ertrinken alle. Wir fuhren sofort nach Remagen. Dort haben wir die ganze Nacht Fernsehen geguckt, als der Strom ausfiel, über Handy. Wir sahen, was los war.
Als ich am 15. Juli um sechs Uhr morgens nach Sinzig zurückkehrte, dachte ich nur: ‚Das kann doch nicht wahr sein.‘ Mir war klar, dass das andere Ahrufer, wo einer meiner Brüder wohnt, auch überflutet war. Ich habe meinen Bruder angerufen. Dann habe ich eine Freundin in Kerpen angerufen. Ich habe ins Telefon geschrien: „Ich wohne hier an einem riesigen Fluss …. Ich bin obdachlos. Ich habe nichts mehr.“ Ich kam zu dem Zeitpunkt noch nicht bis zu meinem Haus, denn dort stand das Wasser noch etwa drei Meter hoch. — In meiner höher gelegenen Erdgeschosswohnung hat es 1,5 Meter hoch gestanden. —
Zu meiner Freundin sagte ich: „Ich weiß nicht wohin.“ Es schien, dass alles kaputt war, dass nichts mehr da war, ich wusste nicht, ob meine zweite Katze tot war.
Gegen 18 Uhr tappten wir zu Fuß durch Wasser und Unrat zwischen mehreren Häusern zu unseren Häusern am Grünen Weg. Einer meiner Mieter öffnete mir die Haustür. Ich schloss meine Wohnungstür auf. Die Katze, die die Flut in der Wohnung überlebt hatte, gab einen Schrei von sich, den ich nie vergessen werde.
Da sah ich, was passiert war. Alles war zerstört. Ich wusste nicht wohin. Der Bruder auf der anderen Ahrseite überließ mir eine kleine Dachgeschosswohnung. Da ging es mir etwas besser.
Die Eindrücke von dem, was das Hochwasser hinterlassen hatte, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Die kriegst du nicht mehr weg.
Am zweiten Tag nach der Flut, am Freitag, ging ich gemeinsam mit meinen Nichten wieder zum Haus. Da waren schon sehr viele Helfer da. Eine Überraschung. Ein Glück. Leute kamen von weither, um zu helfen, weil sie erfahren hatten, was passiert war. Die Solidarität war sehr groß.
Meine Freundin aus Kerpen ließ einen Bautrockner für mich besorgen. Der wurde mir aus Berlin geschickt.
In der ersten Zeit konnte ich nicht über das Flutereignis reden. Die Tränen steigen auch jetzt noch hoch. — Sie weint. —
Ehemalige Arbeitskollegen waren gekommen und Freunde meines Bruders. Sie alle arbeiteten schon in meiner Wohnung, als ich ankam, auch mein Bruder und meine Schwägerin. Alles wurde weggeworfen, alles war kaputt. Ich habe in meinem Schlafzimmer gestanden, verzweifelt, da sagte eine meiner Nichten: ‚Geh raus!‘ Meine Nichten haben alles rausgeschafft und weggeworfen, was kaputt war. Drei Tage lange haben sie mit vereinten Kräften nur flüssigen Schlamm aus meiner Wohnung geschleppt. Wir hatten kein Wasser. Freunde aus Bonn brachten uns zwei Container mit Wasser. Die Feuerwehr stellte erst später Wasser zur Verfügung. Am Anfang war es chaotisch; die Organisation war noch nicht so gut. Später konnte man sich Kleidung holen und Toilettenartikel, damit man sich pflegen und anziehen konnte. Eine Freundin schickte mir ein Päckchen mit Kleidung. Eine andere Freundin besorgte mir Schuhe aus einem Verteilzentrum. Noch glaubte ich, ich könne einige Dinge aus meinem Haus retten. Zwei Wochen später war mir klar, dass es viel schlimmer war, als ich angenommen hatte. Ich musste alles rauswerfen, Fliesen, Estrich. Nachts schlug mein Herz so stark vor Angst, dass ich dachte, ich würde einen Herzinfarkt kriegen. In der dritten Woche sagte ich mir: ‚Ich habe überlebt. Ich muss weitermachen.‘ Im August bescheinigte mir ein Gutachter, dass alles raus musste. Es hatte geheißen, der Staat stelle Geld zur Verfügung. Von der ISB sollten wir Hilfe bekommen. Deshalb ließ ich ein Gutachten erstellen. Familienangehörige halfen mir dabei. Alles wurde aus meinem Haus entfernt. Das war schwer.
Als meine Wohnung wieder hergerichtet war, bin ich eingezogen. Auf die meisten Möbel musste ich noch warten. Obwohl es mein Zuhause war, war doch alles fremd. Es hat sehr lange gedauert, bis die Möbel kamen; danach ging es mir etwas besser. Die Gefühle des mich-fremd-Fühlens verschwanden allmählich. Dann kamen Nachbarinnen und Nachbarn wieder zurück in unsere Straße. Man konnte sich im Begegnungszelt treffen. Da ging es mir viel besser.
Wenn über lange Zeit viel Regen fällt, kommt das Angstgefühl wieder hoch. Ich denke: Ich muss wieder packen, ich muss wieder weg. Im Kopf beginne ich zu organisieren und überlege was ich in den Obergeschossen meines Hauses in Sicherheit bringe.
Immer wenn ich mal für ein paar Tage verreise, bespreche ich mit meinen Nachbarn, was sie tun sollten, um meine Tiere und den Laptop zu retten, wenn die Ahr wieder steigt. Die Tiere und der Laptop sind das wichtigste. Alles andere ist zu ersetzen; das habe ich ja gesehen.
Psychologen: Das ist nicht meine Welt. Ich hatte meine Freundin in Kerpen, mit der ich jeden Abend eine Stunde lang telefoniert habe. Ihr konnte ich erzählen, was ich empfand und was ich dachte. Sie hat mir zugehört. Bei ihr konnte ich weinen. Sie hat mir sehr geholfen. Dass ich jeden Abend mit ihr gesprochen habe, war meine Psychotherapie.
Am 7. Dezember 2021 begann um 17.30 Uhr ein schrecklicher Sturm. Ich habe mit Gott geschimpft und gesagt: ‚Es ist genug, schon die Flut!‘ Da hat der Sturm aufgehört. Ich habe mich bei Gott für mein Schimpfen entschuldigt.
Wenn der Regen stark ist und lange andauert, habe ich wieder Angst und ich denke: Ich muss wieder hier raus. Ich muss wieder mein Haus verlassen. Ich frage mich dann auch, wohin ich gehen könnte. Zu meinem Bruder kann ich nicht mehr.