Der Verlauf der Flutkatastrophe

Erlebnisbericht W. Kathe

Ahrweiler
Dezember 2022
Werner Kathe

Das Schützenmuseum im Haus der Schützen liegt in der Altstadt von Ahrweiler und befand sich mitten im Flutgeschehen des 14./15. Juli 2021. Der Museumsleiter Werner Kathe berichtet von seinen persönlichen Erlebnissen:

„Von einem Hochwasser und der Eskalation in der Nacht habe ich nichts mitbekommen. Der Morgen des 15. Juli 2021 fing harmlos an. Die Uhranzeige des Radioweckers war dunkel. Ein Zeichen dafür, dass wir in der Nacht Stromausfall hatten, nichts Dramatisches. Die Toilettenspülung funktionierte, alles normal. Oh, in der Küche war der Strom auch nicht da, seltsam. Aus dem Wasserhahn floss das Wasser spärlich, eine zweite Toilettenspülung war nicht mehr möglich.
Kein Strom, kein Wasser, kein Morgenkaffee. Also Ankleiden und nach draußen gehen, um die Lage zu sondieren.

In der Ramersbacher Straße parkten Autos auf der Höhe der Alten Ziegelei an nie zuvor gesehener Stelle, das war ungewöhnlich. Der Nachbar trat aus dem Haus, bestätigte den Stromausfall und wusste, dass die Ahr Hochwasser führte. „Lass uns mal Richtung Stadt gehen und schauen“, schlug er vor. Laufen kam wegen meiner Hüftprobleme für mich nicht in Frage, also nahmen wir unsere Fahrräder.

Bild: Schützenmuseum Ahrweiler
Bild: Schützenmuseum Ahrweiler

Erster Halt: die Bushaltestelle Stadion/Schwimmbad - Schock. Da waren plötzlich Sichtachsen zur Ahr, die es zuvor nicht gab. Da waren Schlammmassen auf der Straße, das Wasser reichte bis zur Bushaltestelle. Ein Wohnmobil lag umgekippt im Vorgarten eines Hauses. Die Ahr rauschte in nie zuvor gesehener Fülle und Wucht über den Sportplatz. Fassungsloses Staunen über eine unbegreifliche Naturgewalt. Der Weg zur Ahrtorbrücke war überflutet, unpassierbar.

Also fuhren wir über die Gierenzheimer Straße an der Gärtnerei Wershofen vorbei zum Kalvarienberg. Am Kalvarienberg war von der für Radfahrer wichtigen Brücke über die Ahr nichts mehr zu sehen - fort, weg, unfassbar. Dafür rauschte die Ahr in nie zuvor gesehener Breite und Geschwindigkeit vorbei, beeindruckend und bedrückend zugleich.

Rebstöcke sahen aus wie abrasiert, Asphaltstücke lagen in der Gegend. Der Weg unterhalb des Kalvarienberges zur Maibachklamm war weggerissen. Die zurückgegangene Wasserlinie ließ noch Schlimmeres erahnen. Hier war kein Weiterkommen, also zurück nach Hause.

Für einen längeren Stromausfall hatten wir in unserem Haushalt keine Vorsorge getroffen. Eine Senseo-Kaffeemaschine ist ohne Strom ohne Nutzen. Also musste für den nun langsam fälligen Morgenkaffee eine andere Lösung gefunden werden. Der Nachbar verfügte über einen Gasgrill. So beschlossen wir, den Grill anzuheizen und einen Topf Wasser zu erhitzen. Gott sei Dank fanden sich ein Melittafilter samt Filterpapier und gemahlener Kaffee.

Nach dem nachbarschaftlichen Morgenkaffee rüsteten wir uns für eine zweite Erkundungstour. Zum Glück besaß ich ein Paar brauchbare Gummistiefel, die in den nächsten Tagen zu meinem Standardschuhwerk werden sollten. Mit dem Fahrrad ging es durch die Eifelstraße zur Bachemer Brücke. Sie war eingestürzt, nicht mehr passierbar. Das Wasser in der St.-Pius-Straße hinderte uns an der Weiterfahrt. Also zurück nach Hause und berichten.

Bild: Schützenmuseum Ahrweiler

Zunächst galt es nun das eigene Leben in der Katastrophe zu organisieren. Notwendige Dinge wurden über Freunde in Burgbrohl organisiert, mit dem Arbeitgeber das Fernbleiben von der Arbeit abgestimmt, Familie und Freunde wurden informiert. Am folgenden Tag, Freitag, 16. Juli 2021, unternahm ich meinen ersten Versuch zum Schützenmuseum vorzudringen.

Die Pius-Brücke war für den Verkehr gesperrt, aber als Fußgänger konnte man sie passieren. Wir fuhren die Schützenstraße entlang in Richtung Ahrtor, vorbei am Jüdischen Friedhof. Die Umgrenzungsmauer war komplett eingestürzt, der Friedhof verwüstet. Auf der Wiese dahinter sammelten sich reichlich angeschwemmte Autos. Das nächste verheerende Bild am Ahrtor-Friedhof, alles war voller Schlamm. Die Mauer war weg und angeschwemmte Autos lagen auf den Gräbern. Erste Baumaschinen tauchten auf.

Durch das Ahrtor ging es nach Ahrweiler hinein. Am Blankartshof vorbei konnte ich mich zum Schützenmuseum vorarbeiten. Nun war ein erster Blick von außen ins Innere möglich. Wasser stand im Museum bis zur Unterkante des großen Bildschirms, ca. 1,80 Meter hoch. Alles war durcheinander. Vor der Eingangstür türmte sich allerlei Angeschwemmtes. Um in das Schützenmuseum zu gelangen, musste ich das Treibgut vor der Tür entfernen. Bei den leichten Dingen kein Problem, aber im Schlamm lagen auch schwere Gummimatten, wie sie auf Baustellen verwendet werden, die mir den Zugang versperrten. Irgendwann waren aber auch diese beseitigt und der Zugang zur Tür war frei.

Bild: Schützenmuseum Ahrweiler

Da tauchte das nächste Problem auf. Die Tür ließ sich nicht aufschließen. Ich brauchte dazu eine Wasserpumpenzange. Also wieder aufs Fahrrad. Der übliche Weg über die Ahrtorbrücke war nicht möglich. Die Flut bzw. das Treibgut hatte die Brücke zum Einsturz gebracht. Ein unfassbarer Anblick auf das Ergebnis einer Naturgewalt. Zurück über die Schützenstraße und über die Pius-Brücke, durch die Eifelstraße, die Alte Ziegelei hinauf. Das notwendige Werkzeug eingepackt und dieselbe Tour wieder zurück. Das erforderte seine Zeit. Durch den Schlamm auf den Straßen war das Fahren nicht einfach. Jedoch erwies sich das Fahrrad als das einzig brauchbare Transportmittel in den sich nun einstellenden chaotischen Zuständen in den Straßen.

Nachdem ich den Zugang zur Tür freigeräumt hatte, öffnete ich das Schloss. Der Schlüssel machte einen stabilen Eindruck, sodass ich mich traute, die Wasserpumpenzange anzusetzen. Mir war klar, würde der Schlüssel abbrechen, sollte es unendlich schwierig werden, die Tür zu öffnen. Der Schlüssel brach nicht ab, er ließ sich drehen und ich konnte die Tür öffnen.

Ab nun musste ich tapfer sein. Der Boden war mit einer dicken Schlammschicht bedeckt. Die Tischvitrinen waren umgestürzt, lagen auf dem Kopf. Die Standvitrinen aus Glas waren jedoch auf ihrem ursprünglichen Platz verblieben. Die Schützenpuppe, die Figuren des St. Sebastianus und des St. Quirinius, die Truhen, alles lag kreuz und quer in einer Ecke versammelt. Nach einem ersten Überblick machte ich viele Fotos zur Dokumentation. Dann begann ich, das Seelenbuch von 1655 zu suchen. Als Spiegelbild der Geschichte von Ahrweiler ab dem 15. Jahrhundert ist das Seelenbuch der Ahrweiler Schützen unersetzbar wertvoll. Das Seelenbuch wurde in einer Säulenvitrine präsentiert und aufbewahrt. Diese war umgestürzt und lag auf der Seite im Schlamm. Ich wusste, das alte Buch darf nicht austrocknen. Im oberen, nicht von der Überflutung betroffenen Teil fand ich eine Klarsichthülle, darin war das Seelenbuch vor dem Austrocknen geschützt. Ich richtete noch ein paar kleinere Dinge wieder auf; mehr konnte ich allein nicht tun.

Türe zu und ab nach Hause. Aber halt, da stand ich vor dem nächsten Problem. Die Tür ließ sich nicht wieder verschließen, alle Versuche scheiterten. Durch die Feuchtigkeit hatte sich Tür so verzogen, dass sie nicht mehr zu schließen war. Ich platzierte ein paar angeschwemmte Teile vor der Tür und ließ das Museum unverschlossen zurück.

Bild: Schützenmuseum Ahrweiler

Mittlerweile war es Sonntag. Fürs Duschen und Essen gingen meine Frau und ich zu Freunden nach Burgbrohl. Danach machten wir uns auf den Weg zu der zwischenzeitlich von meiner Frau organisierten privaten Notunterkunft in Bonn. Dort hatte ich nach Tagen wieder Zugang zum Internet.
Auf eine allgemeine Anfrage vom Museumverband Rheinland-Pfalz per Email: "Betreff: Flutereignisse - Katastrophenfall - Bitte um Meldung betroffener Museen" meldete ich mich telefonisch bei Frau Scheeder und berichte vom Flutgeschehen im Schützenmuseum. Daraufhin meldete sich Frau Gerlach von der Landesbibliothek RLP Koblenz. Mit ihr habe ich die Rettung des Seelenbuches besprochen. Ihre Mitarbeiter waren inzwischen mit der Bestandssicherung der alten Handschriften in der Pfarrei beschäftigt, so dass ich das Seelenbuch vor Ort in rettende Hände übergeben konnte.

Um das Museumsgut zu retten, bedurfte es vieler Hände. Allein war dies nicht zu schaffen. Ein Hilferuf an die eigenen Schützenbrüder wäre vergebens gewesen, da ich sie aufgrund von fehlendem Strom und Internetzugang nicht erreicht hätte. Die meisten von ihnen waren selbst von der Flut betroffen.
Umso dankbarer waren wir, dass sich für das nächste Wochenende Schützenbrüder aus Neuss zur Hilfe angekündigt hatten. Mit ihrer Hilfe wurde das Schützenmuseum und das Museumsgut vom Schlamm befreit und Unbrauchbares, Zerstörtes entsorgt.

Bild: Schützenmuseum Ahrweiler
Bild: Schützenmuseum Ahrweiler

Für die alten Fahnen der Gesellschaften hatten sich im Laufe der Woche rettende Restauratoren gefunden, die diese in der Flutumgebung bargen und erstversorgten. Bei der Entnahme der Fahnen aus den Fahnenschränken stellten wir fest, dass eine Fahne fehlte. Nach einigen Telefonaten war klar, dass sie sich beim Zugführer der Schützen befand und dass die Flut die Fahne in dessen Keller erwischt hatte. Wir fuhren mit dem Fahrrad zum Haus des Zugführers. Als ich auf dem Hof ankam, wollte man gerade anfangen, die Fahne zu kärchern, mit dem Hochdruckreiniger den Dreck zu entfernen. Das konnte ich gerade noch verhindern. Mit der zusammengerollten Fahne auf der Schulter fuhr ich zurück zum Schützenmuseum und übergab sie dort den Restauratoren.

An jenem Wochenende war eine ungewöhnliche Solidarität in der Stadt zu spüren. Überall standen auf den Zufahrtswegen und auf den freien Flächen Fahrzeuge mit auswärtigen KFZ-Kennzeichen. Mit Schaufeln bewaffnete Trupps vornehmlich junger Leute marschierten in die Stadt.

Zwei junge Frauen halfen dem Archivar der Neusser Schützen beim Reinigen des Schützensilbers, ein Ingenieur aus Frankfurt half beim Öffnen der Truhen. Drei kräftige junge Männer aus Siegen holten die schweren Waffenschränke aus dem Keller nach oben. Im Keller lagerten das Schriftgut, das Archiv und die Protokollbücher der Junggesellen. Vieles war unbrauchbar geworden und wurde direkt entsorgt. Für die Protokollbücher fand man eine Lösung mit der TH Köln. Diese werden im Rahmen der Ausbildung in Seminaren und Workshops Stück für Stück restauriert, ein Prozess, der sich über Jahre hinziehen wird.

Das Gebäude wurde von insgesamt drei Gutachtern in Augenschein genommen. Letztlich musste im Gebäude selbst nur der Sanitärbereich herausgenommen und ersetzt werden. Der Mangel an Handwerkern machte den Baufortschritt zu einer zähen Angelegenheit.
Mit den Neusser Schützen verbundene Elektrohandwerker aus Grevenbroich machten die elektrische Installation wieder einsatzfähig. Alle anderen Gewerke warten noch auf ihre Vollendung.

Bild: Schützenmuseum Ahrweiler
Bild: Schützenmuseum Ahrweiler

Nach den Einschränkungen durch Corona und die Flut hatten sich die Schützen und die Stadt auf das große Schützenfest 2022 gefreut. Endlich wollte man zu Fronleichnam wieder gemeinsam aufziehen. Dazu brauchten wir die Fahnen zurück. Mit einer Kraftanstrengung ist es den Restauratoren gelungen, die Fahnen rechtzeitig zu restaurieren und an die Schützengesellschaften zurückzugeben.

Das Seelenbuch von 1655 wurde ebenfalls restauriert und von der für Kultur zuständigen Ministerin Katharina Binz im Rahmen einer Pressekonferenz an die St. Sebastianus-Bürgerschützen-Gesellschaft öffentlichkeitswirksam zurückgegeben.

Die Beseitigung der Folgen der Flut wird die Menschen im Ahrtal noch lange beschäftigen. Mit einmal feucht durchwischen ist es nicht getan. Die Häuser der Menschen haben Vorrang. Das Schützenmuseum spielt für die Vermittlung des Geistes eines friedlich sozialen Miteinanders eine große Rolle, und stellt sich deshalb bei der Verteilung von Handwerkerleistungen gern hinten an.

Die Tage des gemeinsamen Anpackens angesichts einer unfassbaren Katastrophe, die unermessliche Hilfe von außen und das schnelle Finden von Lösungen ist eine wunderbare menschliche Erfahrung, die ich bei all dem Elend dankbar machen durfte.

Bild: Schützenmuseum Ahrweiler
Bild: Schützenmuseum Ahrweiler