SolidAHRität nach der Flut

Annette Holzapfel
Januar 2023

Spenden ohne Ende. Hilfsorganisationen, die niemand alle aufzählen kann. Eine Blaulichtfamilie, die an vielen Orten Leben rettete, an anderen nicht wusste, was sie tun sollte und dann überall mit anpackte. Eine Flut an Helfenden, die ihres Gleichen suchte. Versorgungszelte, Kaffeebuden, Köche und Köchinnen überall, Monate lang. Menschen, die ihre Urlaube abbrachen, um im Ahrtal zu helfen, Gruppen und Vereine, die sich formierten, um zu helfen. Verständnisvolle und hilfsbereite Menschen, wie wir sie nie in unserem Land vermutet hätten. Bereichernde und bewundernswerte Erfahrungen über uns als Volk. Das waren die positiven Folgen der schrecklichen Flutkatastrophe im Juli 2021.

Ja, wir waren fähig, einander schnell und effizient, unbürokratisch und selbstlos zu helfen. Das hat uns unsere Stärke als Nation vor Augen geführt und das macht uns zukunftsfähig als Gesellschaft. Es sollte uns stolz machen.

Keine Frage: ohne die vielen Helfenden, die seit dem ersten Tag nach der Flutkatastrophe ins Ahrtal kamen, Schlamm und Unrat wegschafften, Häuser leerräumten und den Betroffenen neue Zuversicht schenkten, hätte die Entwicklung des Ahrtals einen anderen Verlauf genommen. Es hätte sich mehr Verzweiflung ausgebreitet, das Aufräumen und der Wiederaufbau hätten viel länger gedauert, die Lage der Betroffenen wäre länger katastrophal gewesen, viele Betroffene hätten Hoffnung und Zuversicht nicht wiedergefunden. Die Helfenden packten an, wo sie konnten und wo sie gebraucht wurden, hörten sich traurige Geschichten an, sahen Tote und trösteten. Die Betroffenen gaben den Helfenden die Gewissheit, dass sie wichtig waren; sie vermittelten ihnen eine große Wertschätzung, überschütteten sie mit Dankbarkeit, mit einzigartiger Herzlichkeit, eröffneten ihnen sogar neue Lebensperspektiven. Helfende und Betroffene belohnten einander mit Freundschaften und gaben sich den Glauben an die Menschheit zurück. („Wenn Du den Glauben an die Menschheit verloren hast, dann komm ins Ahrtal! Hier findest Du ihn wieder.“) Helfende fühlten sich von „ihren“ Orten „adoptiert“, sprachen von ihrer „neuen Familie“ oder ihrer „zweiten Heimat“.

Bild: Annette Holzapfel

Kaum jemand im Tal hatte der jungen Generation so viel Engagement und Hilfsbereitschaft zugetraut. Die jungen Leute überraschten viele. Niemand hätte sich vorstellen können, dass so viele Menschen aus ganz Deutschland und dem angrenzenden Ausland anreisen würden, um zu helfen.

Helfende wurden zu „Wiederholungstätern“. Einige kommen auch 2024 noch jedes Wochenende ins Ahrtal, um in den Weinbergen zu helfen, weiter mit anzupacken, Mut zu machen, Freundschaften zu pflegen. Das Ahrtal wurde zur neuen Heimat für diejenigen, die blieben und sich dort ansiedelten, die ihr altes Leben zurückließen, überzeugt, ein neues, besseres, glücklicheres Leben begonnen zu haben. Junge Menschen fanden mitten in ihren Einsätzen die „Liebe ihres Lebens“, heirateten und gründeten eine Familie.

Nie erlebte Wertschätzung versetzte Helfende in himmlische Sphären. Sehnsüchte und verborgene Wünsche gingen in Erfüllung: Helfende erlebten menschliche Nähe und Zuneigung, die sie so vorher nicht erlebt hatten, Verbundenheit und Anerkennung, die neu für sie waren, das Glück des Gebrauchtseins und großer Dankbarkeit. Die Scheu oder Unfähigkeit, Emotionen und Zuneigung auszudrücken wich der Erfahrung einer neuen Menschlichkeit.

Bild: Annette Holzapfel

In den ersten Wochen lagen sich Helfende und Betroffene in den Armen, dokumentierten die innige Verbundenheit, die sich durch die gemeinsamen Erlebnisse und das zusammen Vollbrachte entwickelte. Plötzlich schien in Deutschland etwas möglich zu sein, was viele nie für möglich gehalten hätten. In ausgelassenen, abendlichen Partys feierten Helfende Erfolge und das beglückende Gemeinschaftsgefühl. Sie hatten den Eindruck, dass die Mauern und Grenzen zwischen den Menschen für immer gefallen seien. Es gab kein „Sie“ mehr, sondern nur noch „Du“. Masken wurden trotz Pandemie nicht getragen. Die Initiatoren des Helfershuttles proklamierten, es sei etwas gesellschaftlich Großes gewachsen, das von der Politik konserviert und übernommen werden müsse, um fortan das Denken und Tun der ganzen Republik zu tragen. „Frank-Walter, bitte mach was draus!“ forderte einer der beiden den Bundespräsidenten unter tosendem Applaus auf. Steinmeier gestand, dass er einen so starken Zusammenhalt und eine so große Solidarität nicht für möglich gehalten hatte und lobte: „Da, wo Ihr seid, ist Zuversicht. Deutschland ist stolz auf Euch.“

Bild: Annette Holzapfel

Das Ahrtal verwandelte sich in eine besondere Region, in der eine Katastrophe gemeinsam bewältigt wurde, in der ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entstand. Die SolidAHRität strahlte weit über das Ahrtal hinaus und machte nach Corona Mut, dass man gemeinsam und miteinander viel bewirken konnte.

Auf Facebook schrieb eine Helferin: „Dieses Gemeinschaftsgefühl, das alle trägt, umarmt und stärkt, Mut und Hoffnung schenkt, ist ganz wunderbAHR. Es kommt von Herzen und erreicht Herzen. We AHR family.“

Der Satz „we AHR family“ ist an vielen Orten im Ahrtal zu lesen und ebenso wie das neue Wort „SolidAHRität“ auf Weingläsern, Taschen, Rucksäcken, T-Shirts und anderen Gegenständen.

Für die „Dachzeltnomaden“, durch die Flut zu einer bedeutenden Hilfsorganisation geworden, lautete das Zauberwort „Gemeinschaft“. Sie spürten, wie ihr Einsatz im Ahrtal alle von ihnen veränderte, dass es keinen Platz mehr für das Ego gab, sondern nur noch das „WIR“ zählte.

Bild: Annette Holzapfel

Gleichzeitig verdeutlichten die Aktivitäten im Ahrtal, wie wichtig jede einzelne Person war und dass man am glücklichsten war, wenn man die Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit eines Menschen in Zuversicht und Hoffnung verwandeln konnte.

Eine Helferin schrieb: „Zu sehen, was Ihr ertragt, gibt uns die Kraft, immer weiter zu machen.“ Ihre Bedürfnisse hätten sich geändert. Sie wurde dankbar für ihr gutes Leben: für Wasser, Strom, Heizung, eine eigene Wohnung. Sie sei glücklich im Ahrtal zu sein, weil es dort so viele wunderbare Menschen gebe.

Ein Wehrführer ist sicher: „Dieses Ereignis im Juli 2021 hat uns verändert. Wir haben gelernt, dass es nur auf die Mitmenschlichkeit ankommt.“

Hat Deutschland sich im Ahrtal verändert? Haben die Deutschen durch die Katastrophe etwas gelernt, dass sie zu anderen Menschen macht? Wurde hier eine bessere Gesellschaft geboren? Hat unser Land sich verändert?

Dass das Leben an sich und die menschlichen Beziehungen mehr wert sind als alles Materielle, das haben viele Menschen verstanden, Betroffene und Helfende. Man war offener, freundlicher, verständnisvoller zueinander.

Je nach Lebenssituation brauchen oder zeigen Menschen unterschiedliche Facetten ihrer Persönlichkeit. Wesenszüge, die zuvor unwichtig waren, erlangen mit einem Mal zentrale Bedeutung. Man erlebt Menschen anders, nicht, weil sie sich verändert haben, sondern, weil die neue Situation nie ausgelebte und nie sichtbare Charaktereigenschaften und Fähigkeiten zu Tage fördert. Dies können gute oder schlechte Eigenschaften sein. Man habe viel deutlicher das Gute und das Schlechte im Menschen gesehen, berichten viele Betroffene.

Bild: Annette Holzapfel

Als 2023 viele Helfende noch regelmäßig ins Ahrtal kamen, waren viele von ihnen - jedoch nicht mehr alle - willkommen. Es gibt nun kritische Stimmen in der einheimischen Bevölkerung: „Am Anfang haben die Helfer Phänomenales geleistet. Aber nach einigen Monaten war ihre Hilfe nicht mehr nötig, denn man brauchte Fachleute und ausgebildete Handwerker:innen.“ Unter den Helfenden habe es „verkrachte Existenzen“ gegeben und solche, die einfach nicht hätten gehen wollen, die sich im Ahrtal eingenistet hätten und nun sogar Menschen aus dem Tal Wohnungen wegnähmen. Doch auch sogenannte „verkrachte Existenzen“ hatten wertvolle Hilfe geleistet. Für manche Helfer:innen bot sich die Möglichkeit, neu entdeckte Bedürfnisse zu befriedigen; sie wurden süchtig nach Helfen. Davon profitierten beide Seiten: die Helfenden selbst und die Betroffenen. „Das Helfersyndrom ist uns nach der Flut zugutegekommen“ hat es ein Ortsbürgermeister formuliert.

Selbstverständlich fanden sich unter den Helfenden - wie eben bei Menschen - alle möglichen Motivationen und Fähigkeiten. Manche entstanden auch erst durch zuteil gewordene Anerkennung: es gab selbstlosen Einsatz, Empathie, unermüdliches Spendensammeln, Geschäftsinteressen, herausragendes Organisationstalent, mitunter Machtbedürfnis, Sehnsucht nach Heldentum oder Helfersyndrom. Nichts desto trotz leisteten sie alle wertvolle Hilfe.

Aber es gab auch Helfende, denen es an Empathie mangelte. Während der Aufräumarbeiten in den ersten Wochen fühlten manche Hauseigentümer sich von Helfenden, die in ihre Häuser eindrangen, entmündigt oder durch deren Benehmen in ihrer Würde missachtet und in ihren Gefühlen verletzt.

Dass das Helfen für manche Helfende selbst immer wichtiger wurde, dass es längst ein wesentlicher Teil ihres Selbstbewusstseins und Selbstverständnisses ist, zeigte ein Aufruf im Dezember 2022: „Hallo Ihr Lieben, auch im nächsten Jahr starten wir wieder im Ahrtal durch! Ab 14.01. geht es im 2-Wochen-Rhytmus los. Es gibt noch so viel zu tun, vom Abriss bis hin zum Wiederaufbau. Wenn Ihr Lust habt auf Teamwork, mega tolle Menschen, emotionale Momente und ein über sich hinauswachsen, dann schließt Euch uns gerne an! In unserer Helfer-Familie ist noch Platz für viele wunderbare Herzensmenschen! WE AHR FAMILY.“

Bild: Annette Holzapfel

Unabhängig von persönlichen Motiven, die aus Menschen Helfende machten und unabhängig von dem, wozu das Helfen sie machte, waren die Helfenden von herausragender Bedeutung für die Entwicklung des Ahrtals nach der Flutkatastrophe.

So schreibt Sebastian W. Schmitz in seiner Chronik „Mayschoß und die Flutkatastrophe am 1. Juli“: „Die Hilfsbereitschaft übertrug sich auch auf die Mayschosser/innen und half dabei, in dieser schweren Lage nicht zu resignieren. Es überwog das positive Gefühl eines solidarischen Miteinanders, der Dankbarkeit und Freude, Unterstützung zu erfahren und von Seiten der Helfer/innen zu geben.“

Wie dankbar die Bevölkerung den Helfenden war und ist, kann man überall von den Betroffenen hören und auf Häusern und an Straßenrändern lesen: auf großen Spruchbändern, auf denen „Danke“ steht, manchmal mit einem Herz als Hintergrund. Durch die vielen Helfenden sowie die Beziehungen zwischen Helfenden und Betroffenen kehrten Hoffnung, Kraft und Zuversicht zurück. Hilfsbereitschaft, Einfühlungsvermögen, Verständnis und Dankbarkeit gaben Betroffenen und Helfenden Kraft, um den Wiederaufbau voranzubringen.

Die meisten Betroffenen eint eine große Dankbarkeit gegenüber Helferinnen und Helfern bis heute, aber auch das Bedürfnis, wieder selbstständiger über ihre eigene Zukunft zu entscheiden.

Bild: Annette Holzapfel