Wie Kinder nach der Flut leiden

Elfriede Mittag
Januar 2022

Im Januar 2022 schrieb die Diplom-Psychologin Elfriede Mittag aus Rech diesen Beitrag:

In einer Nacht im Juli 2021 zerstörte eine gewaltige Flutwelle im Ahrtal fast alle Brücken, die Bundesstraße, die Eisenbahn, das Telefonnetz sowie die Strom- und Wasserversorgung. An die Zehntausend Wohnhäuser, 17 Schulen, 19 Kindergärten, die meisten Spielplätze und Sportstätten wurden geflutet. 136 Menschen - Großeltern, Eltern, Jugendliche und Kinder - verloren ihr Leben, unzählige Menschen wurden schwer verletzt - an Leib und Seele.

Das Ausmaß der Flutkatastrophe hat alle Menschen an der Ahr - und darüber hinaus - fassungslos gemacht. Überdeutlich wurde, wie sehr wir den gewaltigen Kräften der Natur ausgeliefert sind, wie klein und machtlos wir sind angesichts der weitreichenden Verwüstungen unserer Heimat.

Mit diesem kollektiven Trauma gingen die Menschen sehr verschieden um. Einige bewältigten ihr Trauma in der Gemeinschaft, sie mobilisierten ihre Ressourcen, konnten auf Hilfe bauen. Andere verdrängten die Erschütterung ihres Selbst- und Weltverständnisses, und schienen heil aus den Schrecknissen hervorgegangen zu sein, bis ihr Zusammenbruch die übermenschliche Anstrengung beendete. Wieder andere waren erstarrt, gefühlstaub, depressiv oder süchtig geworden, zogen sich aus der Gemeinschaft zurück, erlebten Panikattacken oder mussten die Ahr mit ihren sichtbaren Trümmern meiden, wobei sie sich sehnlichst deren Entsorgung herbeiwünschten oder gar aus ihrem Ort wegzogen, weil sie den Anblick nicht ertragen konnten.

Bild: Wolfgang Lingen

Am stärksten betroffen sind Kinder, die ganz kleinen, die die Ereignisse diffus über die Gefühle ihrer Eltern erfassen, und diejenigen, die schon viel begreifen, aber noch nicht die Kraft haben, mit solchen existenzbedrohenden Erlebnissen ohne viel Unterstützung fertig zu werden. Das Urvertrauen in ihre kindliche Welt, unverzichtbar für eine gesunde Entwicklung, wurde zutiefst erschüttert. Nicht erst durch die Flut. Sie hatten während der Pandemie bereits drei Jahre der sozialen Vereinzelung erlebt, als sie mit ihren Spielkameraden weder zu Hause, noch auf dem Dorfspielplatz zusammenkommen durften und die Schule oft geschlossen wurde. Nach den schrecklichen Erlebnissen der Flutnacht und den langanhaltenden Schrecken der Flutfolgen brauchten sie erst recht vor allem viel Zuwendung, Verständnis, ihre Spielkameraden und die Zuversicht, dass die Erwachsenen alles zum Guten wenden würden.

Und die Erwachsenen haben dies intuitiv begriffen. Überall entlang der Ahr wurden Kinder-Treffs organisiert, es wurde gemeinschaftlich gemalt, gespielt, gefeiert. Wenn die Mädchen und Jungen nach der Schule aus dem Bus stiegen, konnten sie sich einen Teller Suppe von den bereitstehenden Helfenden holen, oder sich aus dem aufgeklappten Kofferraum eines Autos mit fremdem Kennzeichen die Taschen mit Süßigkeiten oder mit Spielzeug vollstopfen – sie erlebten, dass die Erwachsenengemeinschaft für sie da war.

Bild: Martina Schneider

Wir sehen die Kinder tagsüber ausgelassen spielen – wie früher? Täuschen wir uns nicht, denn es könnte sein, dass sie nachts aufwachen, weil wieder einmal ein Alptraum sie quälte. Nicht immer ist das seelische Trauma so deutlich sichtbar, wie bei dem kleinen Mädchen, das jedem, der bereit war zuzuhören, erzählte, was ihrer Familie in der Flutnacht Schreckliches widerfuhr. Es gelang ihr offenkundig nicht, sich auf diese Weise von dem grauenvollen Erlebnis des unerbittlich ansteigenden Wassers, vor dem eine Flucht vom Dach des Hauses irgendwann nicht mehr möglich schien, zu befreien. Ebenso sichtbare Spuren hatte die Flutkatastrophe bei einem Jungen hinterlassen, der auf einem neugebauten Spielplatz unbeweglich dastand und auf die Frage, ob er auf seine Spielkameraden warte, antwortete, die seien noch im Unterricht, dort hinten, in der Schule. Die Schule aber war durch die Flut zerstört und geschlossen. Seine Orientierung fand er im Gespräch nur langsam, und die Fragen halfen ihm, das Durcheinander zu ordnen - die neue Schule befand sich in einem fremden Dorf, die neue Unterkunft war weit weg vom gefluteten Elternhaus, es gab kein eigenes Kinderzimmer mehr und der Vater arbeitete jetzt bei einem anderen Arbeitgeber in einer fernen Stadt. Das Gesicht des Jungen hellte sich auf, als er berichtete, die Mutter habe versprochen, das geliebte Sofa, das fast unbeschädigt geblieben war, dürfe er in der neuen Bleibe alleine benutzen. Ein Sofa aus dem früheren glücklichen Leben, an dem er sich festklammerte, ein Sofa als Heilmittel für eine beschädigte Kinderseele.

Bild: Martina Schneider

Meist sind die Signale unauffälliger. Verstärktes Nägelkauen, unbestimmte Bauchschmerzen, Rückzug, Trotzigkeit, Aggressivität sowie Schulprobleme können leicht übersehen werden. Umso mehr, da die Eltern selbst von den Folgen der Flutkatastrophe zutiefst getroffen und oft überfordert von den fast unüberschaubaren Herausforderungen sind. Sie ziehen nach vielen Monaten endlich wieder ein in die wiederhergestellte Wohnung und stellen fest, das bringt nicht die erhoffte seelische Linderung.

Nicht immer gelang es, den Kindern das zu bieten, was sie dringend brauchten. Manchmal, weil ihre Bedürfnisse in dieser Situation schlichtweg unerfüllbar waren, manchmal aber, weil die nötige Einsicht in die verletzte Seele der Kinder fehlte.

Das folgende Beispiel lässt beide Erklärungen zu.

Die Eltern der Grundschulkinder einer Ahrtal-Schule hatten gedrängt, die auf mehrere Schulen in der bergigen Region verteilten sechs Klassen ihrer zerstörten Grundschule wieder zusammenzuführen, möglichst in der Nähe ihrer Wohnorte. Denn die Kinder wurden seit der Flut eine Stunde eher, im Morgengrauen, geweckt; Geschwisterkinder nahmen verschiedene Schulbusse zu unterschiedlichen Zeiten; manche Kinder mussten ohne Beaufsichtigung umsteigen. Nachdem ein Erstklässler, der die Zielanzeige auf dem Bus noch nicht lesen konnte, versehentlich weit weg in der Kreisstadt landete, war klar, dass gehandelt werden musste. Ein ebenes Gelände mitten im Weinberg, nicht weit entfernt von den Wohnorten der Kinder, erschien als ein Stück "heile Welt" (Elternsprecherin). Die Entscheidungstragenden gaben sich große Mühe und konnten sich bald gegenseitig beglückwünschen für die schnelle Realisierung des Umzugs.

Bild: Heinz Grates

Die gestapelten Schulcontainer der neuen provisorischen Schule stehen jetzt tatsächlich auf dem Plateau mitten im Weinberg. Aber der Pausenhof wird begrenzt auf der einen Seite vom ehemaligen Regierungsbunker ("Für Politiker, wenn Atombomben fallen", erklärte ein Kind), auf der anderen Seite von einem gewaltigen Steintor, dem Tunneleingang zum Lager Rebstock, Außenstelle des KZ Buchenwald, ein Ort des Grauens, wie diese Gedenkstätte im Internet bezeichnet wird. Hier nun, in dieser "heilen" Welt, können die Grundschulkinder, deren bewusstes Leben geprägt ist von traumatisierenden Erlebnissen aus den Jahren der Pandemie, der Flutnacht und den Verwüstungen ihrer Heimat, hier können sie nun täglich wahrnehmen: Das ist unsere Welt - ein Ort des Grauens.

Übrigens: der Spielplatz, der früher in der Dorfmitte lag, wurde von der Flut zerstört. Er ist nun mit Spendengeldern wiederaufgebaut worden , weit weg am Rande des Ortes, im ständigen, kalten Schatten eines Berges - neben dem Friedhof.

Längst gibt es den Teller Suppe nicht mehr für die Kinder, die Helfenden mit den vollgepackten Autos mit Süßigkeiten und Spielzeug sind verschwunden. Inzwischen ist, für manche zu langsam, doch viel geschehen: das Ahrtal ist weitgehend aufgeräumt, die Infrastruktur ist im Wesentlichen wieder nutzbar. Nur für die Linderung der seelischen Wunden ist viel zu wenig geschehen, denn es fehlen Fachkräfte. So fühlen sich Familien, Kindergärten und Schulen zunehmend alleingelassen von der Gesellschaft bei ihrer Mammutaufgabe, einer ganzen Generation von Heranwachsenden bei der Überwindung ihrer erschütternden Fluterlebnisse zu helfen.

Bild: Dörte Schmitt