Der Verlauf der Flutkatastrophe

Erlebnisbericht A. Närdemann

Bad Bodendorf
05. Dezember 2022
Anjo Närdemann

„Wie ich die Flut im Juli 2021 erlebt habe“

Anjo Närdemann aus Bad Bodendorf berichtet:

Es war der vorvorletzte Schultag, Mittwoch der 14. Juli 2021. Bald hätten wir es geschafft - die Sommerferien würden endlich beginnen. Am Vormittag hatten wir in drei ökomenischen Abschlussgottesdiensten unsere Viertklässler*innen coronagerecht in der Remagener Kirche St.Peter und Paul verabschiedet. Es sollte das letzte Mal sein, dass ich die evangelische Pfarrerin Reuter sah.
Der Tag war anstrengend gewesen, das Wetter war schon seit Tagen schlecht, nichts als Regen. Angeblich sollten über der Vulkaneifel über 200 ccm Regen in der Stunde fallen – das hatte ich ein paar Tage vorher im Radio gehört, und leicht beunruhigt doch wieder ad acta gelegt. So viel anderes zu tun.
In der Schule war ich noch bis etwa 17:30 Uhr beschäftigt, dann machte ich mich auf den Heimweg. Nicht ohne zuvor noch den aktuellen Rheinpegel zu checken. Ich fuhr die Fährgasse zum Rhein runter und dachte, aha, die Promenade ist schon kurz davor, überspült zu werden. Aber das ist ja nicht so selten am Rhein.
In Bad Bodendorf stand die Feuerwehr im Kurviertel schon bereit, am Parkplatz beim Pavillon in der Nähe der Ahr. Gutes Gefühl! Erinnerung an 2016 – auch damals tat es gut, Feuerwehr und THW um sich zu wissen,
Zuhause angekommen, machte ich mir erst mal etwas zu essen, ich war ziemlich ausgehungert nach dem langen Tag.
Mein Mann war nicht zuhause, er hatte seine Reha in der Klinik Kur-Köln Bad Neuenahr wegen eines neuen Kniegelenks erst vor ein paar Tagen angetreten.
Nebenbei warf ich einen Blick aufs Handy, wo es ständig klickte, viele aktuelle Whatsapp-Nachrichten trudelten im Minutentakt ein, viele von der oberen Ahr. So las ich, die Feuerwehr Remagen sei in Antweiler vom Wasser eingeschlossen. Liegt Antweiler an der Ahr?
Dann kam das inzwischen berühmt gewordene Video, wo ein großer Wohnwagen in wenigen Sekunden unter einem der damals noch stehenden Recher Brückenbögen von den gewaltigen Fluten zermalmt wurde. Wie Spielzeug. Unfassbar.

Bild: Anjo Närdemann

Ja, unfassbar, und doch habe ich es nicht gerafft.
Schlechte Transferleistung, eigentlich gar keine….
Wenn es oben an der Ahr so aussieht, dann wird das Wasser ja schließlich auch in Bad Bodendorf vorbeischauen….
Ich frage mich bis heute, was mich davon abgehalten hat, klar zu denken - wieso mir das damals nicht sofort sonnenklar vor Augen stand.
Immerhin wusste ich, dass 2016 beim letzten Jahrhunderthochwasser im Keller unseres Hauses ein paar Zentimeter Grundwasser durch einen Kellergully eindringen konnten, was aber kein Problem darstellte, es konnte aufgefangen werden.Nun begab ich mich doch daran, im Keller die Schotten dicht zu machen. Ich nahm die Platte vom Schacht des Schiebers, entfernte Mengen von Spinnweben, suchte und fand das Sprühöl, um den Schieber gangbar zu machen und drehte und drehte und drehte…bis es nicht weiterging. Gut. Dieses Loch war schon mal zu.

Nun an den Kellergully. Mein Mann hatte mir erklärt, wie ich einen Stempel darauf bauen und unter die Kellerdecke spannen sollte. Und tatsächlich hatte ich alle benötigten Dinge gefunden: Zuunterst eine Gummiplatte, darauf ein Holzbrett, auf dem der Scherenwagenheber sicheren Stand fand, einen Balken hochkant drauf balanciert und noch eine Holzplatte für ganz oben, damit der Putz nicht kaputtgeht - geradezu vorbildlich. (Ach, der Putz… wie lange uns das Thema Putz noch begleiten würde!)
Nun fühlte ich mich gewappnet. Das Wasser konnte kommen.
Inzwischen war es kurz vor 20 Uhr geworden, ich zog Regensachen an für einen Abendspaziergang an die Ahr, die etwa 170 m von unserem Haus entfernt vorüberrauschte.

Bild: Anjo Närdemann

Das Flüsschen war ein reißender Fluss geworden, der in unglaublicher Geschwindigkeit vorbeischoss. Unmengen Holz und Müll rasten Richtung Rhein, aber der Radweg war noch frei. Ich lief zur Freiherr-vom-Stein-Brücke, um mir das Schauspiel von oben anzusehen und ein paar Aufnahmen zu machen. Etliche Menschen aus Bad Bodendorf standen auch hier. Fasziniert und besorgt gleichermaßen. Die Tiefgaragen von „Schloss Schreckenstein“ waren also schon geräumt. Infos über verschiedene Pegelstände an der oberen Ahr machten die Runde, aber was sagen einem diese Zahlen schon? Auf dem Rückweg ging ich bei der Feuerwehr vorbei. Inzwischen hatte sich auf dem Parkplatz schon eine große Pfütze gebildet. Ein Feuerwehrmann meinte auf meine Frage, wie hoch das Wasser wohl käme, wahrscheinlich so ungefähr wie 2016, wenn überhaupt, gerade erst sei eine leichte Entwarnung reingekommen. Na, dachte ich mir, dann wird es ja wohl nicht so schlimm werden, jedenfalls nicht für unser Haus… mit einem eher guten Gefühl der relativen Sicherheit ging ich nach Hause.
Im Keller räumte ich noch ein paar Fotokisten aus den unteren Regalfächern im Gästezimmer und stellte sie oben aufs Regal, das digitale Schlagzeug meines Mannes setzte ich etwas höher, also, nur für alle Fälle!! Falls der Boden doch nass werden sollte…
Dann erreichte mich über die Schulcloud die Nachricht einer Kollegin, die in Ahrweiler direkt an der Ahrallee wohnt, dass gerade Wasser in ihren Keller liefe… keine Stunde später war das Erdgeschoss geflutet! Nun wurde ich doch unruhig.
Um 21:54 Uhr fuhr die Feuerwehr Bad Bodendorf durch die Josef-Hardt-Allee und warnte die Anlieger vor einem extremen Hochwasser der Ahr, man möge sein Auto besser in höher gelegene Straßen umparken. Das hieß also, dass die Feuerwehr mit einer Überflutung der Straße rechnete?! Eigentlich kaum zu glauben, dann käme das Hochwasser ja viel höher als 2016! Na gut, dann parke ich meinen Corsa mal lieber in der Parallelstraße, man kann ja nie wissen. High Noon in der Rosenstraße… dort gab es inzwischen kaum noch eine freie Parklücke.

Bild: Anjo Närdemann

Ich frage mich heute, was ich eigentlich zwischen 22 und 1:00 Uhr nachts gemacht habe?
Jedenfalls habe ich nicht die trockenen weißen Handtücher und die schöne, nagelneue weiße Unterwäsche vom Wäscheständer abgenommen, worüber ich mich noch maßlos ärgern sollte.
Mit meinem Mann habe ich natürlich telefoniert, Nachrichten auf dem Handy angeschaut, kommuniziert, die Kollegin war nicht mehr erreichbar…oje. Was noch? Jedenfalls habe ich mein Handy nicht aufgeladen. Habe auch keine Taschenlampe bereitgelegt…
Nie werde ich die Panik in der Stimme des Feuerwehrmanns vergessen, der um 0:49 Uhr durch die Josef-Hardt-Allee fuhr, um die Menschen auf der ahrseitigen Straßenseite mit bebender Stimme zum Verlassen ihrer Häuser aufforderte… aber ich war ja auf der ahrabgewandten Straße, und ich konnte ja schließlich in das obere Stockwerk flüchten.
Todmüde legte ich mich gegen 1:00 Uhr angezogen auf mein Bett, das Ohr halb auf der Straße, Fenster auf Kipp. Ich fiel in einen leichten Schlaf.

Bild: Anjo Närdemann

Wovon erwachte ich eigentlich?
Jedenfalls war um 2:20 Uhr die Welt eine andere.

Die Uhrzeit wusste ich vom Handy, denn der Radiowecker war schwarz. Überhaupt war alles schwarz. Stromausfall. Dabei so ein merkwürdiges Hintergrundgeräusch… ich schlich im Dunkeln mit der kleinen Taschenlampe aus dem Nachttisch zur Wohnungstüre und traute mich kaum, sie zu öffnen. Aus dem Keller hörte ich Wasserwerfer-Geräusche. Ein Plätschern und Prasseln…Schock. Wie konnte denn das sein?! Ich hatte doch alles dichtgemacht! Dann öffnete ich vorsichtig die Haustüre – und mir blieb die Luft weg, der Mund stand offen, nie werde ich in meinem Leben diesen Augenblick vergessen – die Ahr war ein reißender Fluß und floss statt in ihrem Bett durch die Josef-Hardt-Allee, außen an unserer neuen Vorgartenmauer vorbei.
Nun machte sich Panik in mir breit. Ich versuchte, meinen Mann auf dem Handy zu erreichen, was tatsächlich auch noch funktionierte. Wir haben die Ahr im Haus, schrie ich verzweifelt in den Hörer, was mach ich denn jetzt? Natürlich war er geschockt, aber er schaffte es tatsächlich, mich zu beruhigen. Ganz ruhig, ganz ruhig! Geh runter und mache die Hauptsicherung raus, damit es keinen Kurzschluss gibt! Und dann wieder nach oben! Hier in Neuenahr ist die volle Katastrophe, hier ist gerade die Kurgartenbrücke neben der Klinik umgekippt, und lauter Gastanks gehen hoch, es ist unfassbar!
Gesagt, getan, der Moment der Panik und Schwäche ist vorbei.

Bild: Anjo Närdemann

Ich handele jetzt: Die Fotokisten aus dem Regal aufs hohe Gästebett getürmt, rascher Blick auf alte Aktenordner: Was kann weg? Was ist wichtig? Letztere werfe ich mit Schwung auf den hohen Kleiderschrank. Nein, die Geo-Hefte haben keine Chance. Und dann nichts wie raus aus dem Keller! Die Türe vom Gästebad, hinter der es dramatisch rauscht, ist vom noch niedrigen Wasserstand, etwa 25 cm, schon zugedrückt, genauso wie in der Waschküche, wo das Wasser lautstark aus Waschmaschine und Waschbecken schießt.
Nun gilt es, so viel wie möglich in den ersten Stock zu schaffen.
Wasserkästen, Lebensmittel, Klamotten, Schuhe, die guten neuen Stühle, alles, was ich tragen kann, zügig atemlos mit hängender Zunge und Rückenschmerzen - immer weiter - ich gönne mir keine Pause. Ich erinnere mich an meinen trockenen Hals und den großen Durst, den ich mir erst nach zwei Stunden zu stillen erlaube. Zwischendurch ständige Kontrollen: Wie hoch steht das Wasser inzwischen? Im Keller? Vor der Haustüre? Es steigt innen und es steigt außen, von Stufe zu Stufe zu Stufe… braune Brühe.
Was kann ich noch tun? Ich räume Kleinkram in Schubladen, damit da später keiner drauftritt (was für ein Quatsch), ich räume meine Zimmerpflanzen raus auf den Terrassentisch, damit die ganze Blumenerde nicht im Wohnzimmer rumschwimmt und alles verdreckt (ach nee!).
Mit Handtüchern und alter Bettwäsche stopfe ich die Türfüllungen im Erdgeschoss aus, die Wohnung haben wir 2016 für viel Geld renovieren lassen, wenn sie verwüstet wird, ach, das wäre so traurig…

Wenigstens haben wir ein stabiles Haus.
Ich bin nicht in Lebensgefahr.
Ich habe keine Todesangst.

Bild: Anjo Närdemann

So, es ist nach 4 Uhr, ich hole mir einen Gartenstuhl in den Hausflur und setze mich endlich. Mit einem Gummischieber bewaffnet halte ich die Wasserstände im Auge; „in Schach“ wäre offenkundig vermessen. Mein Plan: Wenn das Wasser zur Türe reinkommt, werde ich es in den Keller schieben, da ist ja noch Platz. Guter Plan.
Draußen ist es finster. Und leise. Bis auf das unentwegte Wasserrauschen hört man nichts. Ich bin alleine unter dem Himmel, so fühlt es sich an. Allein auf der Welt.
Handyempfang gibt es nicht. Kaum noch Strom. Ich stelle es aus, um den verbliebenen Rest zu schonen.
Vor der Türe sind noch drei Stufen frei. Wohl nur eine Frage der Zeit…
Dann, ganz allmählich, beginnt es zu dämmern. Gegenüber schält sich die Ahrresidenz aus dem Dunkel. Ich kann den Wasserstand an der Hauswand erkennen, in den Wohnungen im Erdgeschoss dürfte überall das Wasser stehen. Nach einer Weile angestrengten Starrens bemerke ich, dass ein ganz schmaler Streifen an der Wand gegenüber das Sinken des Wasserstands anzeigt.

Und richtig, das Wasser bleibt vor der Türe stehen!
Mitten auf der zweiten Stufe!
Ende!!
Ich kann es kaum glauben. Auf einmal zittern mir die Beine.

Bild: Anjo Närdemann

Es ist 4:49 Uhr.
Jetzt kann ich die Vögel hören. Sie tun so, als wäre Sommer.
Draußen riecht es beißend nach Benzin oder Heizöl, auf der Garageneinfahrt schwappen kleine rote Wellen, sie sehen so beruhigend aus, die kleinen Wellchen, man könnte fast dazu meditieren.
Ich bin völlig erschöpft. Gegen 6 Uhr, nachdem ich wenigstens noch ein paar dokumentarische Aufnahmen gemacht habe mit dem Rest vom Handystrom, lasse ich mich einfach angezogen aufs Bett und in den Schlaf fallen.
Der dauert allerdings nicht lange. Nach zwei Stunden schleicht sich irgendein unpassendes Geräusch hinein… lautes Klopfen an einer Türe…an welcher Türe? Ich muss mich erst aufrappeln, tappe etwas orientierungslos durch die Wohnung.
Ah, das Klopfen kommt von der Terrassentür! (Ich werd’s nie vergessen!)
Und wer steht lächelnd davor?
Unser lieber Freund Manni aus Oberwinter, der es auf riesigen Umwegen hierhin geschafft hat, mit Kaffee, Brötchen, 1000 Einmalhandschuhen, Riesenpapierrolle, unsinkbarer Profitaschenlampe, gefühlt 20 Baueimern… und einem Fass voll Zuversicht und Tatkraft.

MEIN FLUTENGEL!

Bild: Anjo Närdemann

Wenn ich daran denke, kommen mir immer noch die Tränen.
Was hätten wir ohne ihn und all die vielen Helfer und Helferinnen gemacht? So viele Lichtblicke in all dem Elend!
Der bis heute unbekannte Mann aus Kripp, der „einfach nur helfen“ wollte und ungefragt schlammige Überreste aus unserem Keller schleppte,
Junge Mädchen, uns gar nicht oder wenig bekannt, schufteten viele Stunden wie Männer,
der Trupp Bodendorfer Junggesellen, die vom Himmel fielen und Waschmaschine, Trockner und andere schwere Sachen unter Einsatz ihrer Muskeln hinausschafften,
Freunde aus Unkel, die uns über irrsinnige Umwege mit 200 Litern Trinkwasser aus dem Discounter versorgten,
die Freundin aus dem trockenen Teil von Bad Bodendorf, die für uns gekocht hat,
eine GTS-Kollegin aus der Schule und eine alte Schulfreundin, die völlig unerwartet halfen, den Putz im Keller abzukratzen (ach ja, den Putz!).
Und und und….
...doch das ist eine neue Geschichte!


Anmerkung:
Pfarrerin Reuter hat das Unglück überlebt und ist an die Nahe gezogen

Bild: Anjo Närdemann