Der Verlauf der Flutkatastrophe
Erlebnisbericht H. Rieck
Bad Neuenahr
Hubert Rieck
Opfer der Flutkatastrophe 2021
Hubert Rieck, der ehemalige Leiter der Grundschule Bad Neuenahr berichtet:
In der Nähe der altehrwürdigen Willibrorduskirche auf dem Neuenahrer Friedhof im Ortsteil Beul befindet sich eine Grabstätte, die eine große Engelsstatuer aus Bronze schmückt. Auf einer Infoplatte sind die Lebensdaten einer jungen Frau vermerkt: Todestag - 15. Juli 2021. Meine ehemalige Schülerin Johanna O. wurde 22 Jahre alt, sie starb in den Fluten der unsäglichen Katastrophe, die sich in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 ereignete. Die Ahr raubte 136 Menschen das Leben. Löse ich die Einzelschicksale dieser 136 unmittelbaren Flutopfer in ihrem Tun und Leiden auf, so bin ich auch noch in einem zeitlichen Abstand, zutiefst getroffen und erschüttert. Ich weiß mittlerweile nur zu gut, wie sich so selbstverständliche Lebensbedingungen, wie Vertrautheit, Geborgenheit, Sicherheit, Stabilität in ein Nichts auflösen können. Stattdessen: Todesangst, Zerstörung, Fassungslosigkeit, Chaos und Tod.: 69 Menschen starben in meiner Heimatstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler. In einem engen Radius von 15 Metern um mein Wohnhaus ertranken zwei Menschen. Hilfeschreie hallten durch die finstere Nacht, ich vernahm das Rauschen des todbringenden Wassers, das Klatschen von vorbeischwimmenden Autos, Baumstämmen, Öltanks gegen die Wohnhäuser: Ein apokalyptisches Szenarium, das sich, wie mir erst später bewusst wurde, über eine breite Fläche der Stadtteile Wadenheim, Beul und Hemmessen erstreckte. Diese Eindrücke haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt.
Am frühen Abend des 14. Juli 2021 war ich beunruhigt durch die tagelangen Regenfälle. Ich schaute oftmals auf die Wetter-App des Deutschen Wetterdienstes. Das Regengebiet bekam immer wieder neuen Nachschub. Um 20.30 Uhr brachte ich meine 97 Jahre alte Mutter, die seit geraumer Zeit pflegebedürftig war, in ihr Bett. Ich blieb auf, war innerlich ungewöhnlich unruhig. Ich legte Sandsäcke vor und hinter mein Haus. Vom dritten Stock aus konnte ich die Ahr sehen. Sie war sehr hoch, befand sich jedoch noch im Flussbett. Mein unruhiges Gefühl verstärkte sich, aber ich fühlte mich nicht elementar bedroht, zumal keine offiziellen Warnungen über Lautsprecher, Sirenen oder Radio zu vernehmen waren. Gegen 23:00 Uhr hörte ich plötzlich ungewöhnliche und bedrohliche Geräusche. Von der Straßenseite schoss durch die zerstörten Kellerfenster Wasser in den Keller, füllten diesen in kurzer Zeit. Die Kreuzstraße mutierte zu einem reißenden Strom.
Ich lief in die Parterrewohnung der Mutter. Sie schlief in ihrem Pflegebett. Ich griff ihr unter die Schultern, zog sie aus dem Bett, setzte sie in den Rollstuhl und fuhr hastig mit ihr zum Treppenaufgang. Mit einem Rettungsgriff schleppte ich sie unter Aufbietung aller Kräfte die Treppenstufen hoch. Wir kämpften um unser Leben. Das Wasser schoss inzwischen aus dem Keller, drückte sich unter der Haustüre hindurch und quoll schließlich auch von der Hofseite ins Treppenhaus. Ich wusste, je höher wir die Treppe hinaufkommen, desto größer ist die Chance zu überleben. Das todbringende Wasser befand sich schließlich jeweils nur eine Treppenstufe unter uns. Hätte ich meine Mutter losgelassen, wäre sie in den Fluten versunken und elendig ertrunken. Also zog ich sie weiter die Treppenstufen hinauf bis zur ersten Etage. Dort legte ich sie auf ein Bett, wickelte sie in warme Decken, versuchte sie zu beruhigen, zumal seit einigen Minuten der Strom ausgefallen war. Eine kleine an meinem Hosenbund befestigte Taschenlampe spendete uns bei der Flucht vor den Wassermassen einen rettenden Lichtschein.
Bei Tageslicht nahm ich die Zerstörungen wahr, die in der engsten Umgebung geschehen waren. Der Gartenbereich war eine riesige „Seenlandschaft“, die Kreuzstraße war mit Wasserflächen, Schlamm, Unrat und Gegenständen verschiedenster Art bedeckt. Und Mutter: Sie hatte einen Schock erlitten, wollte nicht mehr essen und trinken. Sie befand sich in einem Sterbeprozess. Zwei Tage später kamen die ersten freiwilligen Helfer, unter ihnen ein befreundeter Palliativmediziner. Er kümmerte sich rührend um meine sterbende Mutter. Am 20. Juli 2021 schloss sie in meinen Armen für immer die Augen.
Währenddessen schufteten die freiwilligen Helfer mit Eimerketten, um das Anwesen vom Schlamm zu befreien. Erst nach einigen Tagen wurde mir langsam die ungeheure Dimension der Flutkatastrophe bewusst. Der vormals enge Horizont des subjektiven Wahrnehmens wich der bitteren Erkenntnis, dass es auch viele andere Mitmenschen in meiner Heimat furchtbar getroffen haben musste. Nun erfuhr ich Einzelheiten vom Schicksal vieler Stadtbewohner. Mir wurde gewahr, dass die Ahr eine große Schneise der Verwüstung durch meine Heimatstadt und das gesamte Ahrtal geschlagen hatte. Mir einstmals bekannte oder vertraute Menschen lebten nicht mehr, waren direkt oder indirekt an den Folgen der Flut verstorben. Andere erlitten Verletzungen, waren ohne Wohnung, hatten fast alles verloren, trugen lediglich die Kleidung der Flutnacht am Leibe.
Mir so vertraute Häuser und Brücken waren schlichtweg weggerissen. Das historische Kurviertel mit Spielbank, Sanatorium, Kurhotel und Badehaus glich, infolge der aufgetürmten Schutt- und Schlammberge sowie der gestrandeten Autos, einer wilden Mülldeponie. Die zerstörten Fenster des Gartensaals an der nicht mehr existenten Kurgartenbrücke verwiesen auf die Tatsache, dass die Ahr in jener Nacht durch dieses Bauwerk gerauscht war. Es schmerzte mich sehr, dass viele historische Zeugnisse des Heilbades Neuenahr verlustig waren oder in ihrer Substanz erheblich beschädigt wurden. – Die vielen uneigennützigen Helfer waren das Licht in der Düsternis, gaben mir Hoffnung, Mut und Kraft für einen Wiederaufbau, standen letztlich für eine bessere Zukunft.---Zukunft. – Die Opfer und Überlebenden haben Anspruch auf die sachgerechte Klärung der Frage, wie es zu einer solchen Katastrophe kommen konnte. Sie haben Anspruch auf die Umsetzung von koordinierten Maßnahmen zur Verhinderung von zukünftigen Katastrophen.