Der Verlauf der Flutkatastrophe

Erlebnisbericht L. Meyer

Kreuzberg
Januar 2022
Luis Meyer

Luis Meyer war Schüler der von der Flut völlig zerstörten Ahrtalschule in Altenburg. Er lebt in Kreuzberg, einem Ortsteil von Altenahr. Am 21.07.2021 war er zwölf Jahre alt. 2021 hat er diesen Aufsatz geschrieben:

Am Morgen des 14.07.2021 startete ich wie gewöhnlich normal in den Tag. Anziehen, frühstücken, ab aufs Fahrrad und in die Schule. Das Wetter war sehr bescheiden; es erinnerte mich an einen Herbsttag: grau und trüb. Das schlechte Wetter nahm mir aber nicht die Vorfreude auf die Ferien und auf unseren Urlaub in den Bergen.

Am Nachmittag hat mein Vater mich gebeten, für meine Mutter einen Strauß Rosen in der Gärtnerei abzuholen, da meine Eltern Hochzeitstag hatten. Also machte ich mich mit meiner Großtante auf den Weg.

Um 17:00 Uhr hat meine Mutter ein Video einer Freundin erhalten. Darauf zeigte sich, dass das Wasser vom Sahrbach dramatisch angestiegen war.

Meine Eltern und ich machten uns auf den Weg zur Freundin meiner Mutter, um aus dem Garten Sachen in Sicherheit zu bringen. Die Familie wohnt nur ca. 200 Meter von uns entfernt.

Um ins Dorf zu gelangen, müssen die Anwohner meiner Straße eine kleine Brücke überqueren, unter der der Sahrbach herläuft. Der Sahrbach kommt aus der Gemeinde Kirchsahr und hat im Sommer nicht mehr als 10 bis 15 Zentimeter Wasser.

Dieser Bach hatte um 17.30 Uhr aber so eine massive Wasserhöhe, dass ich meinen Augen nicht traute. Es waren schon Warnschilder dort platziert worden. An der Brücke traf ich eine Schulkameradin. Ich ging mit ihr gemeinsam ins Dorf und nicht, wie geplant, mit meinen Eltern zur Freundin meiner Mutter. Im Dorf war die Ahr noch relativ „normal“ in ihrem Flussbett und der Pegelstand war noch nicht beängstigend. Anders als beim Sahrbach.

Im Dorf spürte man eine gewisse Unruhe. Die Feuerwehrmänner liefen herum und sperrten Straßen, pumpten die ersten Keller aus und viele Dorfbewohner machten sich selbst ein Bild vom Pegel der Ahr.

Bild: Luis Meyer

Ich verabschiedete mich und besuchte eine andere Klassenkameradin, die ich telefonisch nicht erreichen konnte. Sie und ihre Familie wohnen unmittelbar an der Ahr. Ich wollte ihr mitteilen, was ich gesehen hatte. Ich half ihr und ihren Geschwistern, Spielsachen und Wertsachen in Sicherheit in die erste Etage zu bringen. Um 18.00 Uhr machte ich mich auf den Heimweg. Unterwegs traf ich die erste Schulkameradin wieder. Sie hatte ein unwohles Gefühl im Bauch, da sie und ihre Familie nah am Sahrbach wohnten. Ich half ihr und ihrer Schwester, Fahrräder und Schulsachen in die zweite Etage zu räumen, denn man hörte den Bach schon stark rauschen. Als ich nach Hause gehen wollte, hatte ihre Mutter leichte Panik um ihr Auto. Sie wusste nicht, wo sie es in Sicherheit bringen konnte. Ich habe ihr angeboten, das Auto in unserer Straße zu parken, nah an unserem Haus. Sie wollte nicht alleine fahren und da ihre Töchter noch mit dem Räumen von Gegenständen beschäftigt waren, entschloss ich mich, mit der Mutter zu fahren.

Über die kleine Brücke konnten wir nicht mehr fahren, weil das Wasser schon über die Brücke lief. Der Bach hatte sich in einen reißenden Fluss verwandelt. Darin schwammen riesige Baumstämme. Zum Glück war die Straße noch gerade so befahrbar und wir konnten einigermaßen mit dem SUV über einen anderen Weg in meine Straße gelangen. Hätten wir einen PKW von normaler Höhe gehabt, hätten wir keine Chance mehr gehabt, durch die Wassermassen des Bachs zu fahren. Nachdem wir das Auto bei uns abgestellt hatten, machte ich mir Gedanken und Sorgen um meine Eltern und meinen kleinen Bruder Leo. Bestimmt hatten sie bei der Freundin meiner Mutter nicht bemerkt, dass bald kein Durchkommen mehr war.

Hubschrauber kreisten über unserem Dorf und flogen wieder weg, sie kamen dann wieder, das machte mir zusätzlich Sorgen. Ich konnte keinen mit meinem Handy erreichen, weil ich keinen Empfang mehr hatte. Als ich die Straße runterging (wir wohnen am Hang auf einer kleinen Anhöhe), sah ich, dass meine Eltern mir entgegenkamen und dass sie klitschnass waren. Ein Wunder, dass sie nach Hause gekommen waren. Meine Eltern hatten sich einen Weg durch die Gärten bahnen können, da dort die Zäune schon weggeschwemmt waren. Das Wasser ging meinen Eltern bis über die Knie und die Strömung war so stark, dass mein Vater meine Mutter beim Überqueren der Straße festhalten musste. Sie war gegen die Kraft des Wassers machtlos. Meine Mutter nahm mich in die Arme und ich war so erleichtert und überglücklich. Wir sind nach Hause gegangen und haben meinen kleinen Bruder Leo nach nebenan zu meiner Großtante gebracht, haben uns wetterfeste Kleidung angezogen und sind zum Haus unserer Nachbarn.

Bild: Luis Meyer

Wir kümmerten uns schon seit Wochen um ein Haus in unserer Nachbarschaft, dessen Eigentümer im Juni plötzlich beim Abendessen verstorben war und dessen Frau zu ihrem Sohn ins Ettal gezogen war. Wir fuhren ihr Auto aus der Garage. Danach brachten wir noch Waschmaschine, Trockner und die Fahrräder in Sicherheit. Wir konnten leider nicht alle Gegenstände retten, da plötzlich das Wasser durch die Kellerfenster reingeschossen kam und sich auch durch das Waschbecken und durch den Abfluss wie ein Geysir drückte. Meine Mutter ist schnell zum Sicherungskasten gelaufen und hat den Strom abgestellt. Dann haben wir alle fluchtartig das Haus der Nachbarin verlassen.

Inzwischen war es 20.00 Uhr. Wir konnten nichts mehr tun. Wir mussten das Haus seinem Schicksal überlassen.

In der Zwischenzeit hatten sich noch mehr Nachbarn auf der Straße versammelt. Der kleine Bach war wie ein reißender Strom.

Wir haben 20 Autos gezählt, die angeschwommen kamen oder aus unserer Straße gespült worden sind, wie kleine Schiffe. Die Wassermassen waren so laut, dass man die Worte des anderen nicht verstehen konnte. Es begann, langsam dunkel zu werden. Der Regen hörte immer noch nicht auf.

Plötzlich hörten wir jemanden laut „Hallo“ rufen. Es war ein Nachbar, der sich am Gartenzaun einer anderen Nachbarin festklammerte. Bei dieser Nachbarin hatte er noch eine Pumpe anbringen wollen, als er von den Wassermassen im Keller überrascht wurde. Aus eigener Kraft konnte er die Straße nicht mehr überqueren. Der Zaun war zum Glück aus massivem Stahl - der Hauseigentümer war Schlossermeister gewesen. Das Wasser stieg zusehends. Wir hatten kein langes Seil, da fast alle Keller und Garagen in unserer Straße vollgelaufen waren. Mein Vater hat sich ein langes Kabel besorgt und dieses dem Nachbarn zugeworfen, der sich noch am Zaun festhielt. Der band sich das Kabel um den Bauch. So konnten wir ihn gemeinsam mit der Hilfe einiger Nachbarn zu uns ziehen. Jetzt war es schon 21.00 Uhr und alle waren wahnsinnig erleichtert, dass wir ihn retten konnten.

Einige Häuser waren dem Wasser komplett ausgesetzt. Wir sahen hilflos zu, was alles weggespült wurde bzw. wie klein und machtlos der Mensch gegen die Natur ist.

Bei einem Nachbarn haben wir noch wichtige Gegenstände vom Keller ins Erdgeschoss gebracht, als das Wasser in unserer Straße höher und höher stieg. Wir haben alle Hand in Hand gearbeitet. Ich habe mit meinem Vater Waschmaschine und Trockner nach oben gebracht. Unter normalen Umständen hätte ich dafür eigentlich keine Kraft gehabt, aber an diesem Abend war alles möglich.

Bild: Luis Meyer

Um 22.30 Uhr konnten wir nichts mehr retten. Das Wasser schoss in den Keller und binnen von Minuten war dieser überflutet. In unserer Straße versuchte jeder, noch etwas zu retten und die Autos in Sicherheit zu fahren.

Wir hatten noch nie mit solchen Wassermassen zu tun, auch 2016 nicht. Obwohl wir am Bach wohnen, hatten in der Vergangenheit nur zwei Häuser mit überschwemmten Kellern zu kämpfen gehabt.

Ab 23.00 Uhr waren alle meine Nachbarn auf der noch nicht überschwemmten Straße. Wir schauten wortlos dem Geschehen zu. Obwohl kaum einer etwas sagte, fühlten wir uns nicht alleine.

Um 1.00 Uhr hörte der Regen auf und wir beobachteten, wie das Wasser langsam sank. Eine allgemeine Erleichterung war bei allen zu spüren.

Um 1.30 Uhr - der Strom war ausgefallen - gingen wir langsam heim und versuchten, etwas zu schlafen.

Am nächsten Tag wurden wir um 5.00 Uhr von vielen Hubschraubern geweckt. Trotzdem versuchten wir alle, noch etwas zur Ruhe zu kommen.

Um 6.00 Uhr sind meine Mutter und ich zu einer Nachbarin gucken gegangen, die ihr Haus nicht mehr rechtzeitig verlassen konnte, weil das Wasser zu schnell gekommen war. Ihr Haus war rundherum von Wassermassen eingeschlossen. Durch die extreme Strömung war das Wasser so laut, dass die Nachbarin uns nicht hören konnte. So wussten wir zu diesem Zeitpunkt nicht, ob es ihr gut ging. Wir versuchten alles Mögliche, um sie auf uns aufmerksam zu machen. Dann leuchteten wir mit einer Taschenlampe in das Fenster im ersten Stock. Plötzlich öffnete sich das Fenster und wir winkten uns zu. Die Nachbarin konnte erst gegen Mittag ihr Haus verlassen. Meine Mutter und ich versorgten sie dann mit Essen. In ihrem Haus hatte das Wasser alles verwüstet.

Gegen 10.00 Uhr, als das Wasser zurückging, begannen wir, die Straße vom Schlamm zu räumen. Jeder half in der Straße mit.Ein anderer Nachbar hatte in der Flutnacht das Wasser bis ca. 1.30 Meter im Erdgeschoss gehabt. Auch dort war die Zerstörung massiv. Alle Lebensmittel und Vorräte in der Küche und im Keller waren hin. Er hatte keine Getränke mehr. Sie waren in der Garage gelagert gewesen. Ich bin sofort mit meiner Mutter nach Hause gelaufen. Wir haben ihm Wasser und geschmierte Brote gebracht. Er war so dankbar.

Unsere Straße war vom restlichen Dorf abgeschnitten. So waren wir auf uns alleine gestellt. Ein komisches Gefühl. Aber wir machten irgendwie weiter. Unser Motto: Nicht aufgeben!

Gegen 18.00 Uhr hatte einer unserer Nachbarn die Idee, gemeinsam zu grillen. Trotz der Katastrophe war ich mir sicher, dass alle das Grillen genossen. Zu diesem Zeitpunkt konnte sich keiner das Ausmaß der Katastrophe vorstellen. Meine Mutter und ich haben allen Nachbarn in unserer Straße Bescheid gesagt und alle sind sie gekommen. Jeder hatte etwas mitgebracht, was noch essbar war. Unzählige Hubschrauber flogen immer wieder über uns. Das hielt uns vom Essen aber nicht ab.

Bild: Luis Meyer

Am Freitag starteten wir wieder mit Räumungsarbeiten in unserer Straße. Einige Männer machten sich an das Freischneiden der Straße nach Krälingen. Das mussten sie aber bald darauf wieder aufgeben, weil es kein Benzin mehr gab. Der Weg ins Dorf war durch die Beschädigung der Straße und der Brücke sowie den ganzen Unrat nicht möglich. Strom, Wasser und Funk hatten wir keinen mehr. Der Akku vom Handy war leer. Meine Mutter hatte die Idee, unser kleines Radio aus dem Badezimmer zu holen. Das lief auf Akku. Dadurch konnten wir nach einer gefühlten Ewigkeit die Nachrichten hören. Von der Gemeinde Schuld hörte man, dass es dort sechs Todesopfer gegeben haben sollte. Das ging mir den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf.

Am Samstag haben wir uns an das Freiräumen der Brücke gemacht und mit Brettern ein Provisorium gebaut. Danach kamen die ersten Utensilien von der Feuerwehr aus Kalenborn. Wir nahmen sie dankbar an. Der Weg war frei geräumt worden und wir hatten die Möglichkeit, unsere Straße in Richtung Dorf zu verlassen. Wir alle hatten keinen Kontakt mehr außerhalb unserer Straße gehabt.

Ich und auch viele andere hatten die Situation und das Ausmaß der Zerstörung bis dahin überhaupt nicht realisiert. Es war eigentlich gut so, dass unser Körper in der Not einfach umdenkt, um uns zu schützen.

Gegen elf Uhr, als wir alle noch beim provisorischen Brückenbau waren, kam eine Reporterin mit einem Fernsehteam aus Spanien. Einer fragte sie, was sie hier machte. Sie entgegnete in gebrochenem Deutsch, dass die ganze Welt auf uns schauen würde. Da wurde mir erst klar, was passiert sein musste auf der anderen Seite unserer Straße. So begriff ich langsam, was passiert war.

Als die Brücke fertig war, bin ich mit einigen Nachbarn und meinen Eltern ins Dorf gegangen. Dort war das Ausmaß der Katastrophe zu sehen. Wir staunten und waren nur fassungslos.

Ich habe meinem Bericht die Überschrift „Hölle und Himmel“ gegeben. Die Hölle war für mich die Flut und ihre massive Zerstörung. Den Himmel habe ich so erlebt, dass wir alle zusammengehalten haben. Egal, ob wir uns kannten oder nicht. Wir saßen alle in einem Boot und haben uns gegenseitig unterstützt. Wir waren nur gemeinsam stark, jeder hat getan, was er konnte. Einer für alle und alle für einen. Eine Erfahrung, die ich - trotz der schweren Zerstörung - nicht missen möchte.

Bild: Luis Meyer