Der Verlauf der Flutkatastrophe
Erlebnisbericht W. Josten / A. Holzapfel
Reimerzhoven
Januar 2023
Werner Josten, Annette Holzapfel
Werner Josten, aufgeschrieben von Annette Holzapfel:
Das Winzerdorf Reimerzhoven liegt in einer Engstelle des Ahrtals zwischen Mayschoß und Altenahr. Die Häuser stehen in drei ansteigenden Reihen am linksseitigen Ahrufer. Über enge Gassen gelangt man von einer Reihe zur nächsten. Hinter der letzten Häuserreihe geht es steil hinauf in die Weinberge.
Am Mittag des 14. Juli 2021 war es auf der Straße in Reimerzhoven sehr unruhig. Die Leute beobachteten die Ahr, da sie ein Hochwasser erwarteten, das schlimmer werden sollte als das von 2016.
Auf dem Küchentisch von Ehepaar Josten lag ein Zettel, auf dem der Link zum Pegel Altenahr notiert war. Über diesen Link konnte man sich laufend über den Pegelstand informieren. Am Nachmittag stieg der Pegel viertelstündlich bis 19:00 Uhr stark an. Die Leute dachten, der Höchststand sei erreicht, die Keller würden volllaufen, Schlimmeres würde jedoch nicht passieren. Ein Trugschluss, denn der Pegel war von den Fluten weggerissen worden und somit konnte kein Wasserstand mehr angezeigt werden.
Das Wasser stieg weiter und erreichte die Häuser. Gegen 21.00 Uhr verließen die Dorfbewohner bis auf drei Familien ihre Häuser über die Hinterausgänge. Sie kletterten aus Fenstern oder über die Dächer nach draußen. Den ältesten Einwohner:innen halfen junge Leute.
In einem zweistöckigen Mietshaus in der Rotweinstraße kam es gegen 19.30 Uhr zu einer dramatischen Rettungsaktion:
Nach verzweifelten Hilferufen einer bettlägerigen, schwergewichtigen Frau mit einem Oberschenkelhalsbruch eilten zwei Nachbarn in deren überschwemmte Parterrewohnung und fanden die hilflose Bewohnerin, deren Matratze bereits das Wasser erreicht hatte. Unter Einsatz ihres eigenen Lebens schafften es die beiden Männer, die Frau, die dabei große Schmerzen litt, nach draußen zu bringen und über eine Außentreppe Stufe für Stufe höher auf einen Balkon zu bringen und sie dorthin zu setzen. Wegen der sehr schnell steigenden Flut musste die Frau wenig später auf ein ein Meter höher gelegenes Vordach gebracht werden. Als das Wasser die Frau auch dort erreichte, scheiterte der Versuch der anderen Mieter, ihre Mitbewohnerin durch ein Toilettenfenster in die höher gelegene Wohnetage zu ziehen. Schließlich warf man ihr eine Hundeleine zu und band das andere Ende innen an einen Heizkörper. Erst nach Stunden der Todesangst und nachdem der Wasserpegel gefallen war, gelang es den Wohnungsnachbarn, die Frau endgültig in Sicherheit zu bringen. Am nächsten Tag wurde die Frau mit einem Bundeswehrhubschrauber in ein Krankenhaus geflogen.
Viele steckten sich noch ihre Handys, Portemonnaies und wichtige Medikamente ein. Dann gingen sie bergauf in Richtung Weinberge zu dem einzigen Haus, das so hoch stand, dass sie sich dort vor dem Wasser sicher fühlten. Die Eigentümerin dieses Hauses in der Bergstraße nahm 30 Erwachsene und Kinder sowie fünf Hunde auf. Einige legten sich auf den Boden; andere verbrachten die Nacht sitzend auf Stühlen. Manche waren barfuß gekommen; die Hauseigentümerin gab ihnen Schuhe. Eine 81-jährige kam weinend mit ihren Enkeln, die aus Belgien zu Besuch bei ihr weilten. Sie war nass und voller Schlamm. Beim Verlassen ihres Hauses war sie hingefallen und hatte sich verletzt.
Eine 93-Jährige, die mit der Hilfe einer jüngeren Frau schon frühzeitig in die Bergstraße gekommen war, erzählte, dass sie nie zuvor einen vergleichbaren Zusammenhalt wie in jener Nacht erlebt hatte. Deshalb fühlte sie sich vollkommen sicher. Ihr Sohn holte sie am nächsten Tag ab und brachte sie nach Frankfurt. Später verkaufte sie ihr von der Flut zerstörtes Haus und lebt seitdem in einem Seniorenstift in Köln. Nach Reimerzhoven ist sie seit der Flut nicht mehr gekommen. „Es tut schon weh“, sagt sie. Ihr kaputtes Haus und ihr dahinter gelegenes Elternhaus möchte sie nie mehr sehen. Für sie habe ein neuer Lebensabschnitt begonnen, erzählt sie.
In der Rotweinstraße 8 blieb ein Ehepaar die ganze Nacht im Obergeschoss seines Hauses. Die beiden hatten große Angst, weil ständig Balken und Autos gegen ihr Haus schlugen. Die beiden konnten erst am nächsten Vormittag gerettet werden.
Die Reimerzhovener sahen viele Autos und Wohnwagen vorbei schwimmen. Die Blinkanlagen der Autos leuchteten und niemand konnte erkennen, ob sich Personen in den Autos befanden. Die Menschen fürchteten sich vor Explosionen, wenn sie Gastanks sahen, die zischend vorbeischwammen. Dass das Austreten des Gases ein gutes Zeichen war und somit keine Explosionsgefahr bestand, erfuhren sie erst später.
Solange es noch hell war, schauten die Erwachsenen immer wieder die engen Gassen hinunter zu ihren Häusern. Um 23.30 Uhr sagte jemand: „Das Wasser steigt nicht mehr.“ Da konnte aber noch niemand ermessen, wie hoch das Wasser in die Häuser eingedrungen war.
Der folgende Morgen versetzte viele in eine Schockstarre. Regungslos sahen sie, was geschehen war. Aber sie konnten es nicht begreifen. Es kam ihnen unwirklich vor, wie in einem Film. So dachten sie an den ersten Tagen, bald würden sie aus diesem bösen Traum erwachen.
Eine Enkelin der 81-Jährigen ging am Morgen des 15. Juli zum Haus ihrer Oma. Als sie zurückkehrte, berichtete sie, dass die Flut die Hälfte des Hauses weggerissen habe. Die alte Dame selbst hat die Ruine nie mehr gesehen. Aufgrund ihres Sturzes und der starken Schmerzen im Unterarm, brauchte sie dringend eine medizinische Behandlung. Der Arm war gebrochen. Jemand mit einem Geländewagen brachte sie über die Weinberge fort in ein Krankenhaus. Zuerst wohnte sie eineinhalb Jahre bei ihrer Enkelin in Belgien. Inzwischen wohnt sie in einer Parterrewohnung in Bad Neuenahr. Das Grab ihres Mannes befindet sich auf dem Friedhof von Altenahr. Um dorthin zu gelangen, führt die kürzeste Strecke von Bad Neuenahr aus durchs Ahrtal und somit durch Reimerzhoven. Bisher hat die Frau jedoch immer den Umweg über die höher gelegene Gemeinde Grafschaft genommen und es vermieden, ihren ehemaligen Wohnort und die Stelle, an der ihr Haus einmal stand, wiederzusehen.
Das Haus von Ehepaar Josten „in der ersten Reihe“ direkt an der Ahr war innen vollkommen zerstört. Deshalb lebten die beiden und ihre behinderte Tochter 422 Tage lang in fünf verschiedenen Orten. Sie waren eine der ersten Familien, die nach Reimerzhoven zurückkehrten. Weil es zu dem Zeitpunkt noch keine Straßenlaternen gab und weil weit und breit keine Nachbarn zu sehen waren, war es abends unheimlich. Dann wurde im September 2022 der Tunnel wieder hergestellt und die Straßensperrung in Richtung Altenahr aufgehoben. Danach fuhren wieder Autos über die Straße am Ahrufer.
Reimerzhoven gehört verwaltungsmäßig zu Altenahr. Dorthin jedoch gab es nach der Flut keine Verbindung mehr: die Straße war kaputt und der Tunnel gesperrt. Auch die Straße, die in die andere Richtung nach Mayschoß führte, war zerstört. So nutzten die Reimerzhovener den in Kurven bergauf in die Weinberge führenden schmalen Wirtschaftsweg, der schon bei früheren Fluten immer als „Fluchtweg“ genutzt wurde. Diesmal jedoch war der Weg nach dem Starkregen kaum noch zu befahren. Er was ausgeschwemmt und es gab viele Schlaglöcher. In den Kurven setzte man mit beladenen Fahrzeugen immer wieder auf. Mehrere Autos mussten deshalb anschließend in einer Werkstatt repariert werden. Oberhalb von Reimerzhoven stößt dieser Wirtschaftsweg auf den Rotweinwanderweg. Hierüber war es möglich, nach Altenahr und nach Mayschoß zu gelangen.
Die Mayschosser versorgten die Reimerzhovener mit Essen und nahmen ihren Müll mit. Die Reimerzhovener und einige Helfenden, die von außerhalb zu Fuß über die Weinberge in den Ort gekommen waren, hatten den Schutt und alles, was man nun wegwerfen und entsorgen musste, am Straßenrand aufgetürmt. Dazwischen standen kaputte Autos, die den Weg versperrten.
Problematisch war, dass Angehörige von Bundeswehr oder Hilfsorganisationen täglich woanders eingesetzt wurden und somit keine längerfristigen Ansprechpartner waren. Schließlich kamen Seelsorger und Psychologen, jeden Tag liefen sie die Straße ab, bald waren es zu viele, ständig wurde man angesprochen.
Ehepaar Josten lebt mittlerweile im wieder hergerichteten Haus. Die gesamte Einrichtung, das ganze Geschirr, alle wichtigen Akten und Fotoalben sind weggeschwommen, auch der Weihnachtsschmuck, den sie früher immer aus dem Keller holten. Manchmal möchte Frau Josten ihrem Mann sagen, er soll doch mal in der untersten Schublade nachschauen, wo ihre Krippenfiguren sind. Aber die sind nicht mehr da. Viele Erinnerungsstücke hat die Flut weggespült. Doch das Leben geht weiter.
Glücklicherweise gab es in Reimerzhoven keine Toten. Einige Familien haben allerdings aufgegeben. Neun Haushalte mit insgesamt 21 Personen bleiben fort. Sie werden nicht mehr zurückkehren. Vor der Flut lebten 54 Menschen in Reimerzhoven, 2023 sind es nur 33 Personen.